Das Drama der metaphysischen Obdachlosigkeit, gekürzt auf einen Familienkonflikt
oder
Feigheit vor dem Text
Zum ersten Mal zeigt das Karlsruher Schauspiel ein Stück des österreichischen Dramatikers und Wortkünstlers Ewald Palmetshofer (*1978), doch der Regisseur beraubt Text und Publikum um eine wesentliche Dimension: Sobald der Autor sprachlich ausholt, unterbindet die Regie den Schwung, kürzt den Text bzw. läßt die Schauspieler in hohem Sprechtempo über die nicht gestrichenen Stellen sinnentleert hinwegeilen. Der Regisseur nimmt dem Drama dabei nicht nur einiges von dessen eigentümlicher Individualität, sondern weicht auch der eigentlichen Herausforderung des Stücks aus, die darin besteht, Handlung und Überbau zu einem Ganzen zu verknüpfen. In Die Verlorenen baut der Autor eine zeitgemäß banale Geschichte (das Stück handelt von einer scheiternden, ihr Kind vernachlässigenden Mutter, die zu spät versucht, den Kontakt zu ihrem mißratenen Sprößling wieder herzustellen) um eine Kritik der positivistischen Kultur bei der das Symptom der Leere, der Verstocktheit und Bosheit des Herzens auf eine spirituelle Krise und metaphysische Obdachlosigkeit in der säkularisierten und radikal diesseitigen Welt im Allgemeinen und auf eine familiäre Verwahrlosung im Speziellen zurückgeführt wird. Auf diese Einbettung des Kerndramas in den größeren Kontext des Verlusts wird überwiegend verzichtet, aus den Verlorenen (im Plural) wird hier Die Verlorene. Doch auch wenn die Regie am Wesentlichen scheitert, ist die Inszenierung des Kerntextes gut gemacht und überzeugt mit sehr guten Schauspielern.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2024/2025 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Sonntag, 8. Juni 2025
Palmetshofer - Die Verlorenen, 07.06.2025
Sonntag, 25. Mai 2025
Tschaikowsky - Eugen Onegin, 24.05.2025
Seelenschilderung vor symbolischer Landschaft
Eigentlich sollte Tschaikowskys Oper nicht Eugen Onegin heißen, sondern Tatjana, denn nicht dem titelgebenden Schnösel gehört das Mitgefühl des Publikums, sondern der von ihm verschmähten Frau. Tschaikowsky bezeichnete seine Oper ausdrücklich als "Lyrische Szenen", und jede Inszenierung, die auf die Musik hört, muß einen Weg finden, sich auf die inneren Bewegungen der Figuren, auf intime und psychologisch feinfühlige Motive und leise Gefühlsregungen zu konzentrieren. Der neuen Karlsruher Inszenierung gelingt das in einer durchweg werkgemäßen und damit überraschungsfreien, aber auch etwas nüchtern-leidenschaftslosen Weise, die getragen von den famosen Sängern und Musikern gestern eine gute Premiere feierte.
Sonntag, 27. April 2025
Prokofjew - Romeo und Julia (Ballett), 26.04.2025
Puristisch verpufft
Im Südwesten kennt man die berühmten, weltweit oft getanzten Choreographien von Prokofjews Romeo und Julia aus den 1960ern: John Cranko in Stuttgart und davon beeinflußt Kenneth Macmillan (dessen Version Birgit Keil ab 2006 in Karlsruhe zeigte) schufen dramaturgisch und emotional starke Ballette mit opulenter Ausstattung, die inzwischen aber auch als etwas angestaubte Kostümschinken wirken können. In Karlsruhe zeigt man nun eine 1996 in Monte-Carlo uraufgeführte, puristisch reduzierte Version, die -obwohl fast 30 Jahre alt- szenisch kein bißchen angestaubt wirkt. Doch die Choreographie von Jean-Christoph Maillot konnte gestern in vielerlei Hinsicht nicht überzeugen: sie ist erzählerisch dünn, atmosphärisch blaß und nicht spektakulär, zu viele Höhepunkte verpuffen wirkungslos. Ballettdirektor Raimondo Rebeck, der einst selber als Romeo in Maillots Choreographie tanzte, scheint diese Version aus sentimentalen Gründen gewählt zu haben; Ob er damit beim Publikum einen Volltreffer gelandet hat, darf man bezweifeln. Doch es gab auch Lichtblicke: die hochmotivierten Tänzer des Badischen Staatsballetts, insbesondere Sophie Burke und Lasse Caballero in den Titelrollen, Lucia Solari, Filippo Valmorbida und Geivison Moreira.
Sonntag, 13. April 2025
Fallwickl - Die Wut, die bleibt, 12.04.2025
Beate Zschäpe als Vorbild für "starke Frauen"?
Uiuiuiuiuiuiui! Wie konnte denn dieser Absturz passieren? Nicht nur hat das Karlsruher Schauspiel aus einem unterbelichteten Roman ein unterbelichtetes Theaterstück gemacht, man zeigt auch noch den Haltungsschaden, einem gewaltverharmlosenden Text nicht ansatzweise gerecht werden zu können. Man stelle sich folgenden Handlungsstrang vor:
Eine Gruppe männlicher Jugendlicher, die allesamt Opfer migrantischer Gewaltanwendung geworden sind, beginnen Kampfsport zu trainieren und Muskeln aufzubauen. Irgendwann fühlen sie sich bereit, zusammen als maskierter Trupp ihre Peiniger zu überfallen und gemeinsam zu verprügeln. In der Folge beginnen sie, Ausländer zusammenzuschlagen, von denen sie Schlechtes gehört haben, und dann töten sie unbeabsichtigt ein Opfer. Sie tauchen ab, aber wollen im Untergrund weitermachen: 'Jungs wie wir werden überall gebraucht'.
Das mag manche an den nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erinnern. Aber kaum jemand wird auf die Idee kommen, daß diese Geschichte ein 'maskulines Empowerment' erzählt. Das Karlsruher Schauspiel hingegen schon. Ein Handlungsstrang aus Die Wut, die bleibt:
Eine Gruppe weiblicher Jugendlicher, die allesamt Opfer männlicher Gewaltanwendung geworden sind, beginnen Kampfsport zu trainieren und Muskeln aufzubauen. Irgendwann fühlen sie sich bereit, zusammen als maskierter Trupp ihre Peiniger zu überfallen und gemeinsam zu verprügeln. In der Folge beginnen sie, Männer zu zusammenzuschlagen, von denen sie Schlechtes gehört haben, und dann töten sie unbeabsichtigt ein Opfer. Sie tauchen ab, aber wollen im Untergrund weitermachen: "Mädchen wir wir werden überall gebraucht."
Wie erzählt man diese kriminelle Entwicklung? Als "weibliches Empowerment"!?! Echt jetzt!?! Man mag es kaum glauben: das Karlsruher Schauspiel flirtet mit faschistoiden Ideen.
Montag, 31. März 2025
Strauss - Der Rosenkavalier, 30.03.2025
Aus der Zeit gefallen, aus den Fugen geraten, aus der Perspektive des Wehmuts
Der neue Karlsruher Rosenkavalier ist eine Übernahme einer Inszenierung, die 2006 in Berlin Premiere feierte (und später auch u.a. in München und Prag zu sehen war). Regisseur Andreas Homoki, damals Intendant der Komischen Oper, erschuf eine grundsolide, aber etwas zu humorlose Inszenierung, die sich an zentralen Stellen verdichtet, indem sie nachdrücklich die Brüche ernst nimmt und die Wehmut, die über ihnen liegt. Am Schluß gibt es zwar ein glückliches Liebespaar, doch manches gerät dabei aus den Fugen und fällt aus der Zeit. Letztendlich überzeugt diese Inszenierung durch die Rücksichtnahme, man möchte fast Zärtlichkeit sagen, mit der der Regisseur den drei liebenden Figuren begegnet. Die gestrige Premiere gelang homogen auf hohem Niveau und erhielt sowohl sängerisch als auch musikalisch viel Applaus und Bravos, und insbesondere das zentrale Sängerquintett war grandios.
Samstag, 22. Februar 2025
Händel - Rinaldo, 21.02.2025
Zwischen Effekten und Affekten
Vielversprechend war, was man über den neuen Rinaldo vorab zu hören und sehen bekam. Und tatsächlich ist der neue Rinaldo bemerkenswert in vielerlei Hinsicht: Bühne und Kostüme sind einfallsreich, viele szenische Veränderungen und Kostümwechsel lassen keine Langeweile aufkommen. Der Regisseur läßt es sich allerdings nicht ganz nehmen, das Publikum zu quälen, und auch sängerisch und musikalisch ist man nicht durchgehend im Goldstandard. Doch auch wenn die visuellen Effekte stärker in Erinnerung bleiben als die musikalischen Affekte, ist der neuen Festspielleitung ein sehenswerter und stark applaudierter Einstieg bei den Karlsruher Händel Festspielen gelungen.
Sonntag, 16. Februar 2025
Büchner - Woyzeck, 15.02.2025
Abiturthema im Bundesland der Bildungsverlierer
Schon wieder Woyzeck? Ja, der Stoff wird mal wieder Abiturthema. Das mag manche überraschen, das Bundesland erlebt seit Winfried Kretschmanns Amtsübernahme als Ministerpräsident einen desaströsen Bildungsabstieg. Über Jahrzehnte gehörten Bayern und der Südwesten zur Bildungsspitze im Bund, die Frankfurter Allgemeine schrieb (hier): "Eine Sonderauswertung mit einem Vergleich der Bundesländer hatte bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 ergeben, daß Bayern und Baden-Württemberg über dem OECD-Durchschnitt lagen, und zwar recht deutlich, und Sachsen nur wenig darunter. Diese drei Bundesländer hatten dabei die stringentesten institutionellen Regelungen: die Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlungen, eine stärkere organisatorische Kontrolle der Schulen, etwa über die Standardisierung des Stoffs, zentrale Prüfungen, regelmäßige Tests und eine Rechenschaftspflicht der Schulen und ihrer Lehrer. " Inzwischen sind Bayern (dort gibt es auch die wenigsten Schulabbrecher) und Sachsen an der Spitze, die Tageszeitung Die Welt konstatierte (hier): "Kein anderes Bundesland ist in der letzten Dekade so stark in der Bildungsqualität zurückgefallen wie Baden-Württemberg. Fast jeder fünfte Viertklässler schafft mittlerweile in Mathematik und Deutsch nicht mal mehr das Mindestniveau." Das pädagogische Scheitern fördert Ungleichheit. Bildung und Wissen sind wieder Distinktionsmerkmale, denn leistungsstarke Schüler haben wieder deutliche Vorteile, wenn sich das Niveau nach unten orientiert. Ein weiteres Indiz für die Verblödung von Jugendlichen: immer mehr fallen durch die theoretische Führerscheinprüfung, 2024 sollen es bundesweit fast 50% gewesen sein. Wo bereits die Vermittlung einfachster Fähigkeiten als unerträglicher Leistungsdruck diskreditiert wird, darf man sich über solche Resultate nicht wundern. Es wirkt, als ob es in den letzten Jahren politisch gewollt sei, die Lebensperspektiven von Kinder frühzeitig zu verbauen, damit sie sich später politisch für den paternalistischen Staat entscheiden und in schlechter Tradition Freiheitsrechte gegen Versorgungsansprüche abgeben. Die staatsinterventionistischen Parteien scheinen sich allerdings teilweise verrechnet zu haben, denn bei Jungwählern gibt es Überraschungen. Passenderweise hat sich das Bundesland immerhin auf der Phrasenseite angepaßt: "Wir können alles. Außer Hochdeutsch." wurde als überambitioniertes und deshalb nicht mehr zeitgemäßes Landesmotto abgelöst, nun hat man ein inhaltsleeres, orthographisch dubioses, nicht jeden Humor ansprechendes und auch entlarvend wirkendes "The Länd".
Schon wieder Woyzeck (mehr dazu hier (2019) und hier (2023)). Manch einer wird sich gewünscht haben, daß man den kurzen Text doch lieber im Jugendtheater oder im Studio inszeniert hätte, statt ihn ins Kleine Haus zu bringen. 75 pausenlose Minuten scheinen für eine vollpreisige Abendvorstellung etwas unterdimensioniert. Doch immerhin gelingt hier eine ganz ordentliche Inszenierung, die in der Titelrolle mit Jannik Süselbeck bravourös besetzt ist.
Sonntag, 9. Februar 2025
Benbenek - Tragödienbastardin, 08.02.2025
Migration als Unglück und Geschwafel
Re-/Migration ist ein Thema im Wahlkampf der vorgezogenen Bundestagswahl und der Zufall wollte es, daß das Karlsruher Schauspiel gestern, 15 Tage vor dem Urnengang, ein migrationskritisches Stück auf die Bühne des Studios brachte. Autorin Ewe Benbenek (1985 in Polen geboren) kam selber als Kind mit ihren Eltern in die Bundesrepublik und hat mit Tragödienbastardin eine Satire auf den Viktimismus der politischen Linken und die als Narrative bezeichneten ideologischen Fiktionen im Allgemeinen und über das heuschlerische Opferverwertungsklimbim der deutschen Theater im Speziellen geschrieben. Das Betriebsgeheimnis des Stücks ist Bestandteil von Benbeneks Text: "Ja, ja, diese Story, diese migrantisch-authentische, diese schöne migrantisch-authentische Story, die ist gut, die läßt sich heute gut verkaufen, diese Story, bei der kann es dann endlich mal wieder kling bim kling bim machen, in den Kassen, in den Kulturkassen". Benbenek liefert den Theatern Klimbim in Form eines gefühligen Selbstbespiegelungsmonologs für drei weibliche Stimmen, indem sie im Titel Migration provokativ als gefühlte Tragödie und das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen mit einem illegitimen Bastarddasein vergleicht. Doch der Titel übertreibt maßlos, eine Tragödie liegt nicht vor, eher das Luxusproblem, eine Anpassungsleistung zu erbringen, und das Gefühl, illegitim zu sein, erklärt sich im Text aus dem Minderwertigkeitsgefühl der Immigranten, die mit den Ansprüchen und Gepflogenheiten des Wirtsvolkes hadern. Benbenek unterläuft die Erwartungshaltung an eine migrantisch-authentische Story durch Banalisierung. Migration scheitert aus diversen Gründen, hier sind es schlicht psychologische Barrieren: Widerstände bedrohen scheinbar das eigene Selbstwertgefühl. Doch Mikroaggressionen, Kränkungen und Zurückweisungen sind kein Ausdruck von pauschaler Ablehnung. Die Karlsruher Inszenierung kommt Benbeneks Text leider nicht wirklich auf die Schliche und inszeniert zu oft Wehleidigkeit und Leere, wo Satire und Komik angebracht wären. Wer sich nicht nur unkritisch berieseln lassen will, muß Geschwafel ertragen.
Sonntag, 26. Januar 2025
Lemoyne - Phèdre, 25.01.2025
Ein guter Spielplan hat von allem etwas und in dieser Spielzeit präsentiert die Karlsruher Oper gleich zwei Raritäten, zuerst die beim Publikum sehr erfolgreichen Wreckers (eine Wiederaufnahme ist für 2025/26 angekündigt), nun die deutsche Erstaufführung der 1786 (in Zeitgenossenschaft zu Mozarts Hochzeit des Figaro) in Fontainebleau uraufgeführte Phèdre des vergessenen Jean-Baptiste Lemoyne (*1751 †1796), die in Karlsruhe ihre erste szenische Aufführung nach über 200 Jahren erlebt. Phèdre erwies sich gestern als eine legitime Wiederentdeckung einer spannenden Oper, die man Glucks Alceste zur Seite stellen kann, insbesondere da es Lemoyne gelang, große Charakterrollen zu erschaffen, die gestern grandios gesungen wurde: die Premiere wurde zum Triumph für Ann-Beth Solvang und Armin Kolarczyk.
Sonntag, 8. Dezember 2024
Strauß - Die Fledermaus, 07.12.2024
Heute ist mehr Lametta
Gute Vorstellungen nehmen die Zuschauer bekanntlich auf eine Reise mit, bei der Ankommen und Unterwegssein dasselbe sind. Das werden vielleicht gestern insbesondere die Zuschauer so empfunden haben, die Die Fledermaus kennen und über die Jahre schon öfters gehört und gesehen haben. In Karlsruhe hat man nun immerhin die dritte Fledermaus in weniger als 25 Jahren bzw. die vierte in vier Jahrzehnten. Pavel Fiebers Inszenierung 2001/2002 war so beliebt und unterhaltsam wie das Regie-Elend vor elf Jahren humorfrei und erfolglos. Gestern nun erzielte die Premiere der neuen Produktion einen schönen Publikumserfolg und indem man schnell musikalisch, sängerisch und szenisch präsent war und auf den Punkt kam, ermöglichte man den Zuschauern schon von Beginn an, anzukommen und sich insbesondere mit den grandiosen Sängern und Musikern zu freuen, die voller Engagement und Spielfreude erreichten, was lange Jahre nur selten gelang: ein lachendes und gut gelauntes Publikum. Bravo!
Sonntag, 17. November 2024
Leuchtfeuer (Ballett), 16.11.2024
Heterogene Dreifaltigkeit
Ein Handlungsballett als Uraufführung, eine deutsche Erstaufführung und eine Karlsruher Erstaufführung - der Ballettabend Leuchtfeuer bietet drei sehr unterschiedliche Choreographien. Da sollte für jeden etwas dabei sein, aber nicht alles ist unbedingt für jeden. Vom ballettliebenden Karlsruher Premierenpublikum gab es wie gewohnt viel Jubel und langen Applaus und wenn man an dieser zweiten Premiere der neuen Ballettdirektion etwas hervorheben mag, dann daß es Raimondo Rebeck und Kristína Paulin nicht nur in kurzer Zeit gelungen ist, eine Aufbruchsstimmung zu schaffen, sondern daß man insbesondere eine neue Karlsruher Kompagnie zusammengestellt hat, bei der man bereits viele individuelle und kollektive Stärken findet und auf deren weitere Entwicklung man sich freuen kann.
Montag, 4. November 2024
Brecht - Furcht und Elend des Dritten Reichs, 03.11.2024
Brecht als Orwell: exemplarisch statt episch
Stehende Ovationen, Bravo-Rufe und Jubel - diese Publikumsreaktionen lösten am Badischen Staatstheater zuletzt Oper und Ballett aus, bei denen Wechsel und Neustart gelungen ist und die von einer zuversichtlichen Stimmung profitieren. Ganz anders das Schauspiel, das diese Zuneigung des Publikums aktuell kaum zu spüren bekommt. Man hat auf den Umbruch verzichtet und Aufbruchstimmung war schon vorab nicht zu erwarten und hat sich bisher auch nicht eingestellt. Die ersten beiden Schauspielpremieren der Spielzeit waren dazu wenig begeisternd. Auch die dritte Premiere des neuen Schauspieldirektor Claus Caesar wird das Publikum zwar nicht in Scharen ins Theater locken, aber immerhin gelingt hier eine bemerkenswerte Brecht-Inszenierung, die das für Brecht untypische, nicht verfremdete oder episch wirkende Szenenwerk zu einem exemplarischen Stück über das Verstummen des Einzelnen im autoritären Staat macht. Caesar gelingt mit der Verpflichtung des russischen Regisseurs Timofey Kuljabin eine erste positive Überraschung. Bertolt Brecht (*1898 †1956) ging 1933 ins Exil, bis 1939 wohnte er in Dänemark, wo erste Texte von Furcht und Elend des Dritten Reiches entstand, eine Sammlung von kurzen Szenen mit unterschiedlichen Rollen, mit denen die gesellschaftliche Atmosphäre im nationalsozialistischen Deutschland beschrieben werden sollte. Aufgrund fehlender eigener Anschauung war Brecht auf Berichte und Erzählungen Dritter angewiesen. Doch durch Brechts Distanz erhielten die Szenen eine diktaturübergreifende Prägnanz, die den Text ebenso zur allgemeinen Vorlage für psychologische Mechanismen in jeder Diktatur macht. Brecht schafft hier unbeabsichtigt exemplarisches Theater, das in die Gegenwart aktueller Diktaturen geholt werden kann. Eine Aktualität, die sich die Karlsruher Inszenierung zunutze macht. Die Inszenierung "schlägt einen Bogen von lauter Propaganda hin zum Verstummen und fokussiert auf die unheimliche Gegenwärtigkeit des Brecht‘schen Stoffs." Und diese Aktualisierung ist gelungen und hat durchaus sogar Anknüpfungspunkte für die bundesdeutsche Realität. Denn angesichts einer Bundesregierung, die wieder Journalisten (erfolglos) verklagt, die Denunziationsportale finanziert, die mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz ein Vorbild für autoritäre Staaten geschaffen hat und der Bundesnetzagentur eine Funktion überträgt, die zur Zensur mißbraucht werden kann, ist ein Theaterstück gegen autoritäre Politik und gegen die Beschränkung der Meinungs- und Redefreiheit gerade wieder akut dringend nötig.
Montag, 28. Oktober 2024
Mascagni - Cavalleria Rusticana, Leoncavallo - Pagliacci, 27.10.2024
Glutvoll und lodernd
Es war höchste Zeit, daß die beliebten Opernzwillinge auf die Karlsruher Opernbühne zurückkehren, wo sie zuletzt in den 1990er getrennt inszeniert wurden. Beide Opern handeln von Liebe, Ehebruch, Eifersucht und Totschlag und die Inszenierung verbindet die beiden Einakter zu einer Oper mit zwei Handlungen, die am gleichen Tag im gleichen Ort spielen: "Das Dorf Vizzini südlich von Catania, Piazzetta S. Teresa, 21. April 1946, Ostersonntag". Das Resultat ist gelungen, szenisch spannend sowie musikalisch und sängerisch emotionsstark - immer wieder ergeben sich mitreißende dramatische Höhepunkte. Applaus und Jubel des Publikums waren langanhaltend.
Sonntag, 13. Oktober 2024
Donizetti - Don Pasquale, 12.10.2024
Vergnügtes Sängerfest
Wenn man Zweck und Mittel vertauscht, entsteht oft Zynismus. Im vergangenen Jahrzehnt wurden die Sänger oft zum Mittel reduziert zum Zwecke der Inszenierung und Selbstdarstellung von Regie und Intendanz. Beim neuen Don Pasquale ist die Inszenierung das Mittel zum Zweck von Musik und Gesang. Die Karlsruher Produktion von Donizettis gediegenem Klassiker ist als Buffa ganz aus dem Geiste der Musik inszeniert und ein Sängerfest für ein bemerkenswert auftrumpfendes Quartett. Die gelungene Premiere wurde mit viel Applaus für alle Beteiligten belohnt.
Montag, 7. Oktober 2024
Tanzkraftwerk, 06.10.2024
Mitreißender Einstand
Ein wichtiger Hinweis vorab: der Vorstell- und Kennenlern-Ballettabend Tanzkraftwerk wird nur noch dreimal aufgeführt (und zwar am 11., 20. und 26. Oktober) - und das sollte man sich nicht entgehen lassen! Hier wird die Vorfreude auf die kommende Spielzeit so erfolgreich geschürt, daß es am Ende der Premiere stehende Ovationen und lautstarken Jubel für die neue Kompagnie und das Leitungsteam gab. Zehn Choreographien sind zu sehen, darunter jeweils drei von Kristina Paulin, die als neue Hauschoreographin eine besondere Rolle einnimmt, sowie vom neuen Ballettdirektor Raimondo Rebeck. Und den abschließenden Boléro von Maurice Ravel, mitreißend getanzt von allen 30 Tänzern des Badischen Staatsballetts, sollte man schon gar nicht verpassen.
Sonntag, 6. Oktober 2024
Kafka - Der Prozeß, 05.10.2024
Kafka als Pflichtthema
Franz Kafka (*1883 †1924) hat kein Theaterstück geschrieben, dennoch ist er in diesem Jahr anläßlich seines 100. Todestags einer der meist aufgeführten Bühnenautoren. Die Erzählung Die Verwandlung sowie die Romane Das Schloß und Der Prozeß scheinen bei Theatermachern in diesem Jahr besonders beliebt und es stellt sich die Frage, wie Kafka heute wahrgenommen wird und zu was er inspiriert. In Karlsruhe hinterließ Der Prozeß gestern im Studio allerdings einen faden Nachgeschmack, als hätte man sich eher einer Pflichtaufgabe entledigt, statt einer Inspiration Ausdruck zu geben. Kein großer Wurf, ordentliches Handwerk, dafür aber motivierte Schauspieler. Der Applaus war rasch enden wollend.
Montag, 30. September 2024
Smyth - The Wreckers, 29.09.2024
Spannend, mitreißend und umjubelt
Es hatte sich ja bereits abgezeichnet, daß das Herzblut des neuen Intendanten Christian Firmbach der größten Sparte gehört und die Ära der falschen Wertigkeiten nun endgültig vorbei sein sollte. Die gestrige erste Opernpremiere des neuen Operndirektor Christoph von Bernuth war mit Spannung erwartet und endete als voller Erfolg mit mitreißender sängerischer und orchestraler Leistung und einer gelungenen Inszenierung, die aus Ethel Smyths vergessener Oper The Wreckers einen spannenden Thriller macht.
Sonntag, 29. September 2024
Stockmann - Die rote Mühle, 28.09.2024
Fehlstart mit grotesker Moralschmonzette
Die erste Premiere des neuen Schauspieldirektors Claus Caesar ist eine Uraufführung und wurde ambitioniert angekündigt. Es sollte ein großer Wurf werden, ein Konstrukt, das scheinbar Wichtiges verhandelt: die Rückkehr des Paternalismus, mit dem die postmaterialistische Welt von Innen verändert wird. Doch was ein Konzentrat sein müßte, entpuppte sich als dünner Aufguß einer ungewöhnlich schlichten Handlung, die wild zusammenkonstruiert, aber nur durch einen schwachen Faden verbunden ist. Was als ambivalent angekündigt war, bewegte sich im Ungefähren und Plakativen, Schlagworte endeten phrasenhaft, teilweise schön inszenatorisch verpackt, aber inwendig ohne Substanz. Die "Moral" der als Groteske inszenierten Handlung hätte man im Kindergarten erzählen können. Wären da nicht starke Schauspielerleistungen zu sehen gewesen, hätte es ein Fiasko gegeben.