Sonntag, 27. April 2025

Prokofjew - Romeo und Julia (Ballett), 26.04.2025

Puristisch verpufft
Im Südwesten kennt man die berühmten, weltweit oft getanzten Choreographien von Prokofjews Romeo und Julia aus den 1960ern: John Cranko in Stuttgart und davon beeinflußt Kenneth Macmillan (dessen Version Birgit Keil ab 2006 in Karlsruhe zeigte) schufen dramaturgisch und emotional starke Ballette mit opulenter Ausstattung, die inzwischen aber auch als etwas angestaubte Kostümschinken wirken können. In Karlsruhe zeigt man nun eine 1996 in Monte-Carlo uraufgeführte, puristisch reduzierte Version, die -obwohl fast 30 Jahre alt- szenisch kein bißchen angestaubt wirkt. Doch die Choreographie von Jean-Christoph Maillot konnte gestern in vielerlei Hinsicht nicht überzeugen: sie ist erzählerisch dünn, atmosphärisch blaß und nicht spektakulär, zu viele Höhepunkte verpuffen wirkungslos. Ballettdirektor Raimondo Rebeck, der einst selber als Romeo in Maillots Choreographie tanzte, scheint diese Version aus sentimentalen Gründen gewählt zu haben; Ob er damit beim Publikum einen Volltreffer gelandet hat, darf man bezweifeln. Doch es gab auch Lichtblicke: die hochmotivierten Tänzer des Badischen Staatsballetts, insbesondere Sophie Burke und Lasse Caballero in den Titelrollen, Lucia Solari, Filippo Valmorbida und Geivison Moreira.

Was ist zu sehen?
Im Hintergrund gewölbte und davor bewegliche glatte weiße Wände, eine schmal ansteigende, höhenverstellbare Schräge, die als Balkon und Weg dient - die Bühne zeigt sich zeit- und bezugslos. Die Kostüme sind schlicht und weisen auf frühere Zeiten hin, sind aber ohne Hierarchie. bzw. Statusattribute. Die Montagues sind hell, die Capulets dunkel kostümiert. Visuell ist man puristisch unterwegs, man verzichtet auch sonst auf Firlefanz, kein Balkon, kein Dekors, kein Mantel-und-Degen Ambiente, es wird bspw. nicht gefochten wie bei Cranko und Macmillan. Die Streit- und Kampfszenen sind tänzerisch abstrahiert und waffenlos. Wenn die Capulets im ersten Akt auf die Montagues treffen, dann wirkt das wie ein Streit zwischen zwei konkurrierenden Aerobic-Studios.

Choreograph Jean-Christoph Maillot setzt die Handlung als bekannt voraus und blendet die Hintergründe aus. Er zeigt kein Spektakel, sondern konzentriert sich auf die Titelfiguren und ihre Liebe. Romeos Eltern und Julias Vater sind gestrichen - quasi die ganzen, die Tragödie auslösenden Familienverhältnisse finden keine Entsprechung, was dazu führt, daß manche Szenen wenig Prägnanz haben. Die Unerbittlichkeit des Umfelds und die Ausweglosigkeit der Liebesbeziehung erschließen sich kaum.

Die kurze Introduktion bleibt blaß. Die Tragödie wird aus der Sicht von Pater Lorenzo erzählt, der zu Beginn, unterstützt durch zwei Gehilfen, den Konflikt und sein vergebliches Bemühen um Frieden abstrakt erleidet. Der schwarzweiß gekleidete Lorenzo wirkt nicht wie ein Mann der Kirche, eher wie ein Erzieher. Es sind seine guten Absichten, die zur Katastrophe führen, sein vergebliches Bemühen, Teil von jener Kraft zu sein, die Versöhnung will und doch Tote schafft, wird tänzerisch allerdings nicht stark genug emotional aufgeladen, der Pater und seine zwei Gehilfen wirken wie Fremdkörper, die nicht richtig ins Ballett passen wollen. Drei äußerst undankbare Rollen für die Tänzer.

Die Rolle des Herzogs ist gestrichen, der große musikalische Ausbruch in der Szene, in der er Einhalt gebietet, findet keine szenische Entsprechung, die Streitparteien sind längst abgezogen und die musikalische Wucht wird zum inneren Schrei Lorenzos. Die Theatralik verpufft. 
Der Tanz der Ritter ist ebenfalls ein Schwachpunkt, orange beleuchtet fehlt choreographisch sowohl die Härte und Unerbittlichkeit der Musik als auch die hierarchischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Julias Ausweglosigkeit, die geforderte Unterordnung wird nicht vertieft. Den Beginn des Balletts kann man zwingender und überzeugender auf die Bühne bringen.
Erster Höhepunkt ist dann tatsächlich erst die Balkon- und Liebesszene mit ihren Balztänzen, großartig vermittelt von Sophie Burke als Julia und Lasse Caballero als Romeo, die den enthusiastischen Überschwang des Verliebtseins bravourös darstellen und ein attraktives Paar bilden.

Für den zweiten Akt mit den oft ein wenig banal wirkenden Mandolinen- und Volkstanzszenen hat Maillot seine beste Idee: er hat ein Marionettentheater entworfen, das Handlung und Figuren des Balletts aufnimmt. Die Stimmung eines Volksfests ist auf der Bühne dabei allerdings nicht zu entdecken, es gibt weder Zigeunerinnen noch andere übliche Elemente dieser Szene. Filippo Valmorbida als clownesquer Mercutio und Geivison Moreira als angemessen humorloser Tybalt dürfen im zweiten Akt etwas ernster aneinander geraten, die Bewegungen wirken nun weniger wie ein Show-off im Aerobic-Studio. Mercutio stirbt schnell (nicht wie bei Cranko langsam). Der darauf ausbrechende Tumult ist in Zeitlupe choreographiert. Romeo tötet Tybalt vorsätzlich und brutal - eine Version, die man so kaum mal sieht, aber in ihrer Theatralik perfekt zur Musik umgesetzt ist. Lucia Solari als Gräfin Capulet -gestern die ausdrucksstärkste Tänzerin auf der Bühne - hat ihren großen Auftritt nach Tybalts Tod.

Der Beginn des dritten Akts - es war die Nachtigall und nicht die Lerche - ist szenisch und atmosphärisch wenig mitreißend. Die Vermählung des dritten Akts ist übrigens in den Beginn des zweiten Akts verschoben worden und verpufft dort wie so vieles. Julia bekommt vom Pater dann keinen Scheintot hervorrufenden Trank, sondern wird durch choreographische Einfallslosigkeit scheintödlich gelangweilt. Die Gruftszene im vierten Akt  hat man schon stimmungsvoll beeindruckender gesehen, zum Glück hat man mit Sophie Burke und Lasse Caballero zwei Tänzer, die hier emotional noch mal alles geben. 

Was ist zu hören?
Es ist die Zeit der Gäste (evtl. auch hinsichtlich der GMD Nachfolge ab 2027. Den Rosenkavalier an den beiden nächsten Wochenenden dirigieren Kilian Farrell -seit 2023 GMD am Staatstheater Meiningen- und Felix Bender -seit 2021 GMD in Ulm.). Gestern dirigierte Motonori Kobayashi. Er ist seit 2008 am Theater Dortmund engagiert und wurde dort 2013 zum 1. Kapellmeister und stellvertretenden GMD ernannt und dirigierte dort bereits Prokofjews Ballett in Maillots Choreographie.
Kobayashi ließ die Badische Staatskapelle einen soliden Prokofiev spielen, der einen vielleicht nicht vor Spannung auf die Sitzkante rutschen ließ, aber dennoch große Teile der Produktion rettete, indem er die schwach ausgeprägte Dramatik der Choreographie musikalisch deutlich aufwertete. 

Fazit: In der Summe eine über weite Strecken nicht überzeugende Choreographie, die ganz vom Charisma der Tänzer abhängt.

PS (1): Kaum zu glauben, daß es schon wieder fast 20 Jahre her ist, seitdem Macmillans Romeo und Julia in Karlsruhe Premiere hatte. Drei Hauptakteure des Karlsruher Ballettwunders waren gestern im Publikum: Birgit Keil, Vladimir Klos und Achim Thorwald.

PS (2): Filmtipp: Cranko. Wer die Verfilmung von Crankos Stuttgarter Zeit noch nicht gesehen hat, verpasst etwas. Birgit Keil und Vladimir Klos treten auch auf.

Besetzung und Team:
Julia: Sophie Burke 
Romeo: Lasse Caballero
Pater Lorenzo: Leonid Leontev
Begleiter des Paters: Baris Comak, Ledian Soto 
Tybalt: Geivison Moreira
Mercutio: Filippo Valmorbida
Benvolio: Khanya Mandongana  
Gräfin Capulet: Lucia Solari
Julias Amme: Natsuka Abe 
Roselinde: Maria Mazzotti
Graf Paris: Jasper Metcalfe
Die Capulets: Marta Andreitsiv, Anastasiya Didenko, Veronika Jungblut, Carolin Steitz, Hergys Dako, Vitor Oliveira, Philip Sergeychuk; Joshua Tria a. G.
Die Montagues: Anzu Ito, Dina Levin, Nicoletta Moshidis, Lena Scherer, Sara Zinna, Aaron Kok, Niccolò Masini, Xuehao Zhao

Badische Staatskapelle
Musikalische Leitung: Motonori Kobayashi

Choreografie & Inszenierung: Jean-Christophe Maillot
Einstudierung: Gabor Kapin, Christian Tworzyanski, Asier Uriagereka
Bühne: Ernest Pignon-Ernest
Kostüme: Jérôme Kaplan
Licht: Dominique Drillot