Sonntag, 8. Juni 2025

Palmetshofer - Die Verlorenen, 07.06.2025

Das Drama der metaphysischen Obdachlosigkeit, gekürzt auf einen Familienkonflikt
oder
Feigheit vor dem Text

Zum ersten Mal zeigt das Karlsruher Schauspiel ein Stück des österreichischen Dramatikers und Wortkünstlers Ewald Palmetshofer (*1978), doch der Regisseur beraubt Text und Publikum um eine wesentliche Dimension: Sobald der Autor sprachlich ausholt, unterbindet die Regie den Schwung, kürzt den Text bzw. läßt die Schauspieler in hohem Sprechtempo über die nicht gestrichenen Stellen sinnentleert hinwegeilen. Der Regisseur nimmt dem Drama dabei nicht nur einiges von dessen eigentümlicher Individualität, sondern weicht auch der eigentlichen Herausforderung des Stücks aus, die darin besteht, Handlung und Überbau zu einem Ganzen zu verknüpfen. In Die Verlorenen baut der Autor eine zeitgemäß banale Geschichte (das Stück handelt von einer scheiternden, ihr Kind vernachlässigenden Mutter, die zu spät versucht, den Kontakt zu ihrem mißratenen Sprößling wieder herzustellen) um eine Kritik der positivistischen Kultur bei der das Symptom der Leere, der Verstocktheit und Bosheit des Herzens auf eine spirituelle Krise und metaphysische Obdachlosigkeit in der säkularisierten und radikal diesseitigen Welt im Allgemeinen und auf eine familiäre Verwahrlosung im Speziellen zurückgeführt wird. Auf diese Einbettung des Kerndramas in den größeren Kontext des Verlusts wird überwiegend verzichtet, aus den Verlorenen (im Plural) wird hier Die Verlorene. Doch auch wenn die Regie am Wesentlichen scheitert, ist die Inszenierung des Kerntextes  gut gemacht und überzeugt mit sehr guten Schauspielern.

Worum geht es?
Der Prolog ist ein Kyrie, eleison, das den Adressaten nicht kennt. Die Klagelitanei der spirituellen Krise beginnt mit den Worten "Hallo? Hört uns jemand?" , es folgt ein trostlos pessimistisches Diesseits, das sich zur Sinnkrise steigert: "wir sind so einsam ... kein Drüben, Draußen, Droben .. kein Ausgang ... eingeschlossen im Am-Leben-sein, es führt kein Weg lebendig raus ... ohne Rettung ... keine nächste Runde, die Partie ist einzig, wiederholt sich nicht ... keine Nachwelt hinten nach ... was kümmert es das Spiel, wer es verliert". 

Handlung: Sonntagmorgen. Clara klingelt an der Tür ihres Ex-Ehemanns Harald und seiner neuen Frau Svenja, um Harald darüber zu informieren, daß sie ein paar Wochen Auszeit braucht, deshalb den gemeinsamen zwölfjährigen Sohn Florentin an den ihr zustehenden Wochenenden nicht abholen kann und dies ihrem Sohn, zu dem sie keine gute Beziehung hat, persönlich mitteilen will.
Clara besorgt sich von ihrer Tante den Schlüssel zum leerstehenden Haus der Großeltern auf dem Lande, um dort eine geraume Zeit zu bleiben. In diesem Haus hat sich heimlich der junge obdach- und mittellose Kevin eingenistet, der gerade noch so verschwinden kann, als Clara ankommt. Clara lernt Kevin bald kennen und verbringt eine Nacht mit ihm. Am nächsten Morgen bringen Harald und Svenja Florentin zu seiner Mutter, da dieser wegen eines Videos von der Schule verwiesen wurde. Clara ist entsetzt, als sie herausfindet, daß ihr Sohn ein anderes Kind gequält und gedemütigt und dies gefilmt und verbreitet hat. Sie versucht ihrem Sohn näher zu kommen. Doch es geschieht ein brutales Unglück mit Todesfolge, wobei es textlich unklar bleibt, ob es sich als Unfall oder mit einer gewissen Vorsätzlichkeit ereignet.
Daneben gibt es noch Nebenstränge mit weiteren Figuren, die von der Dürre der Geschichte ablenken sollen.

Der kurze Epilog greift wieder die spirituelle Leere auf: "wer hilft uns auf und spendet Trost, allmächtige Verzweiflung, ... wenn unter unserer Tageslebenslast zusammenbrechen, mutlos traurig, ohne Hoffnung, einsam, mutterseelenallein, verlassen, ... die Rettung kommt von oben nicht."

Abschweifung:
Die Verlorenen haben einen Urahnen:
"Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer beleuchteter sich wälzt, die, inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche Lage, auf einer jener zahllosen, im grenzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehen, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur eines zu sein von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit."
Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung

Was ist zu beachten?
Was doch ein Prolog ausmachen kann, wenn man ihn denn spielen würde! Die Handlung ist denkbar schlicht, die Figuren wirken wie Klischees, doch Palmetshofer lädt das Stück mit dem Pathos religiös anmutender Sehnsucht und Verzweiflung auf. Die frühen Christen wußten, daß sie zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt sind. Später an der Schwelle zur Moderne wurde der Beichtstuhl durch Freuds Sofa abgelöst. Wer den Sinn nicht mehr jenseitig bzw. außerhalb seiner selbst suchte, konzentrierte sich auf sein Wohlbefinden. Anstelle der Erlösung des religiösen Menschen trat die Befriedigung des psychologischen Menschen. Die Moderne hat nur noch das Sinnangebot materialistischen Wohlergehens  und liberaler Selbstverwirklichung. Das Handeln des autonomen Individuums ist nicht mehr auf ein überindividuelles Gutes ausgerichtet, es gibt kein Nebeneinander von sakraler uns säkularer Sphäre mehr, keine Präsenz des Göttlichen im Alltag. Die konsequent gedachte Diesseitigkeit entledigt sich nebensächlich im Prolog jeglicher Skrupel: "drum: wer sich revanchieren möchte, räch sich jetzt, spiel aus, was er in Händen hält, und schlag zurück, es kommt kein besserer Zeitpunkt".
Religion wird nicht mehr erfahren (Palmetshofer läßt Clara ein Kruzifix von der Wand nehmen), die Welt ist nicht mehr sakramental. Doch die Zeit ist sakramental, in ihr ist etwas Göttliches als Mysterium der Vergänglichkeit noch gegenwärtig. Eine Leerstelle bleibt: "Hallo? Hört uns jemand?"  Die titelgebenden Verlorenen sind gar nicht verloren, sondern einfach nur orientierungslos oder von sich selbst gelangweilt. In einer Epoche der Wehleidigkeit und Kraftlosigkeit  leiden die Verlorenen an der Not der Notlosigkeit, längst entfremdet von der Not, sich selbst gegen Hunger, Krankheit und Willkür zu wappnen. 
Clara sagt von sich selbst: "ich bin aus krummen Holz", sie fährt ein "versifftes Auto". Der zwölfjährige Florentin, der sich von seiner Mutter im Stich gelassen fühlt und sich so weit von ihr entfremdet hat, daß er sie meistens mit ihrem Vornamen anspricht, findet sie "jämmerlich und peinlich", "ich seh doch, wie du kämpfst und immer nur verlierst und merkst es selber nicht". Als Scheidungskind ohne enge Beziehung zur Mutter hat Florentin für sich gelernt: "ich hasse schwach". Doch die Rolle des Stärkeren muß sich in seinem Fall nicht mutig am Ebenbürtigen oder Stärkeren, sondern feig am Schwächeren profilieren. Florentin ist durch die Scheidung vor der Zeit gereift, er erkennt mitleidlos die Schwächen der anderen, er identifiziert Kevin schnell als "obdachlosen Junkie".
Autor Ewald Palmetshofer kann mit manchen humorvollen Episoden und einem manieriert wirkenden Satzbau aufwarten, bspw. wird die Verneinung ans Ende gestellt ("das ist verwerflich nicht") oder der Satzbau verändert ("kann ich dir schicken was"). Die Sprache will keine Milieustudie betreiben, schlichte Figuren bekommen hochtrabende Sätze ("Im Säurebad der Welt löst jedes Ding sich auf. Was übrig bleibt, vielleicht, ist ein Begriff, von keinem mehr gesprochen und gedacht. ..... Nein, eine Frage bleibt, wenn wir verschwinden .... was war der Mensch? Was werden wir gewesen sein? .... ich hab ... Worte ... in mir, wie ... Schlacke abgesunken tief ...". Und so sprechen Clara und Kevin als sie sich fürs Liebespiel ausziehen - auch das eine in Karlsruhe verunstaltend gekürzte Szene.

Was ist zu sehen?
Der Regisseur versemmelt erst mal den Beginn. Er kürzt den Prolog, gibt den übrigen Text nicht an einzelne Schauspieler, sondern läßt alles im Chor bei so hoher Sprechgeschwindigkeit aufsagen, daß man als Zuhörer kaum folgen kann. Als ob der Regisseur Angst vor dem Pathos der Zeilen hat. 
Ein großer, rechteckiger, zweistöckiger Wohnkomplex erlaubt, mehrere Handlungsorte parallel zu zeigen, am linken Rand ist zusätzlich eine Theke darstellende Spüle mit Barhockern, in der drei Nebenfiguren ihre Gespräche führen, die für die Haupthandlung ohne Belang sind, aber beachtenswert gut gespielt sind. Insbesondere der auftrumpfende André Wagner, der eine der spannendsten Episoden des Abends erzählt (das Zusammentreffen mit einer Hirschkuh, einem Geschöpf das mythologisch bzw. in schamanischer Tradition die Menschen auf ihrer spirituellen Reise begleitet, sie ins Jenseits führt oder als Krafttier dient, das Stärke, Einsicht und Verbindung zum Göttlichen vermittelt. Nach Claras Tod erzählt der alte Wolf von einem Hirschkalb bei ihrer Leiche), Lucie Emons als Frau mit dem krummen Rücken und Fabian Kulp als Mann mit der Trichterbrust, der trotz seiner Beeinträchtigung versucht, Spaß zu haben und Clara eine in Karlsruhe etwas zu wütende statt sarkastische Standpauke hält.
Die seltsame Clara wird von Anne Müller mit großem Einsatz dargestellt, eine unruhige Gestik und Mimik, ratlos, hilflos, sanft und unbeholfen - ihre Figur wird lebendig und bleibt doch ein Rätsel. Der von Nikita Buldyrski gespielte Kevin wirkt fast zu stabil. Der Autor legt ihm einiges Philosophisches in den Mund, das aber in Karlsruhe gestrichen ist und insbesondere sein gekürztes lyrisches Liebesvorspiel muß er gehetzt aufsagen, als ob es auf die Worte doch nicht ankäme. 
Der stets grandiose Timo Tank hat als Harald komische und entlarvende Szenen, Frida Österberg findet sich sehr gut in die Rolle der Svenja ein. Für die Rolle des Florentin hat man die junge Eva Habenicht engagiert, die dem Jungen unsympathische Renitenz verleiht.
Die Schlußworte lauten bei Palmetshofer: "Die Rettung, Antwort, kommt von oben nicht". In Karlsruhe sind sie gestrichen, der Regisseur drückt sich um diese Leerstelle und Schwärze und läßt die Schauspieler stattdessen im Chor etwas Choralartiges summen, als ob die Verlorenen dann doch nicht so verloren sind, wenn sie in Not und Trauer den religiös vermittelten Zusammenhalt entdecken, als ob die Rettung doch von oben kommen wird. Wer den Text kennt, mag bezweifeln, ob dies das richtige Ende des Stücks ist oder wird sogar bedauernd konstatieren, daß dies die bedauernswerteste Feigheit vor dem Text ist.

Fazit: Auch die nur teilweise gelungene letzte Schauspielpremiere der Spielzeit kann die mittelmäßige Saison nicht retten. Zu Beginn der neuen Intendanz hätte man ruhig ein wenig  Pulver verschießen können. Stattdessen hinterläßt Schauspieldirektor Claus Cäsar nach seinem ersten Jahr den Eindruck, daß auch nicht mehr viel kommen wird.

Besetzung und Team:
Clara: Anne Müller
Harald:  Timo Tank
Svenja: Frida Österberg
Florentin: Eva Habenicht
Kevin: Nikita Buldyrski
Der alte Wolf: André Wagner
Die Frau mit dem krummen Rücken: Lucie Emons
Der Mann mit der Trichterbrust: Fabian Kulp

Regie: Stephan Kimmig
Bühne: Oliver Helf
Kostüme: Sigi Colpe
Licht: Felix Bach