Mit Lili Boulanger, Ernest Bloch und Dmitri Schostakowitsch konnte man gestern auf eine spannende Entdeckungsreise durch das 20. Jahrhundert gehen.
Das knapp zehnminütige D´un soir triste, komponiert im Todesjahr von Lili Boulanger (*1893 †1918) ist eine Rarität. Die bereits früh in ihrem Leben schwer erkrankte Komponistin soll ihre letzten Werke teilweise ihrer Schwester Nadia (*1887 †1979) diktiert haben, die später als Pädagogin und Professorin prägenden Einfluß auf viele Musiker und Komponisten ausübte. Der traurige Abend klingt klangfarbig dunkel und impressionistisch, der Abend fließt erst lastend, aber ruhig, verdichtet sich öfters stromschnellenartig dramatisch, beruhigt sich wieder und kommt doch nicht zur Ruhe. Ein nettes kleines Klanggemälde mit Debussy-Anklängen, schön musiziert von der Badischen Staatskapelle. In der kommenden Spielzeit wird man Boulangers Kantate Faust et Hélène im 4. Symphoniekonzert präsentieren.Der Schweizer Ernest Bloch (*1880 †1959) ist ebenfalls seltener Gast im Konzertbetrieb. Er komponierte 1915/16 die einsätzige, knapp zwanzigminütige Hebräische Rhapsodie für Violoncello und Orchester namens Schelomo, die eine Phantasie über den legendären israelischen König Salomo sein soll. Thematisch ist das quasi nicht von Belang, es ergeben sich kaum Assoziationen daraus. Schelomo ist eine Rhapsodie, und rhapsodisch bedeutet hier eine Struktur, die von einer Reihe unterschiedlicher Stimmungen und Themen geprägt ist: verschiedene Episoden, die sich in Tempo, Melodie, Rhythmus und Charakter voneinander unterscheiden. Es gibt drei Abschnitte, die ineinander übergehen: Ein langsamer, getragener Beginn (Lento moderato) mit einem klagenden und expressiven Solo-Cello, das von orientalisch anmutenden Orchesterklängen umgeben ist. Ein bewegter Mittelteil (Allegro moderato), der einen dramatischen Dialog zwischen dem Solisten und dem Orchester entwickelt. Und eine Rückkehr zu einer langsameren, nachdenklicheren Stimmung (Andante moderato), die das Werk mit einem Gefühl der Resignation und des Friedens ausklingen läßt. Man hört üppige Harmonik und kantable Melodien, das Orchester interagierte perfekt mit dem Solocello, das oft tief und sanft musiziert. Das Expressive und Spirituelle in schönen Klangfarben gelang Lionel Martin am Violoncello herausragend ausdrucksstark.
Im August jährt sich der Todestag Dmitri Schostakowitschs (*1906 †1975) zum fünfzigsten Mal. Neben Benjamin Britten ist er der wichtigste Komponist innerhalb des 20. Jahrhunderts, aber im Gegensatz zum Briten ist Schostakowitsch der Komponist, in dessen Leben und Musik sich exemplarisch die Abgründe des 20. Jahrhunderts -Krieg und Diktatur- hören lassen. In Karlsruhe wird sein symphonisches Schaffen leider vernachlässigt. Die beliebten Symphonien Nr. 5 und 10 hört man regelmäßig, alle anderen nur sporadisch oder nie. Insbesondere die 4., 6., 7. und 8. sind überfällig. Gestern mal wieder die 10. Symphonie in e-moll, die nach Stalins Tod 1953 entstand und die für den Komponisten qualvollen Jahre des Stalinismus verarbeitet und als autobiographisches Werk gehört werden kann. Schostakowitsch war 1936 in der Sowjetunion quasi als Schöpfer "entarteter" Kunst gebrandmarkt worden. Nach Stalins Besuch einer Aufführung von Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk erschien in der Zeitung ein vernichtender Artikel mit dem Titel "Chaos statt Musik". Dieser Artikel, der Stalins Meinung widerspiegelte oder zumindest von seiner Umgebung inspiriert war, verunglimpfte die Oper. Damit begann eine Phase der Angst und Repression für den Komponisten, die tiefgreifende Auswirkungen auf sein Leben und sein Schaffen hatte. Schostakowitsch komponierte viel für die Schublade und hatte einen gepackten Koffer neben dem Bett, weil er damit rechnete, nachts abgeholt und nach Sibirien in ein sowjetisches Todeslager geschickt zu werden. Nach Stalins Tod endete eine Eiszeit für den Komponisten, das Auftauen beginnt in der 10. Symphonie aber erst ganz am Schluß, davor ist ein Leidensweg vertont. Gastdirigent Dirk Kaftan - Generalmusikdirektor des Beethoven Orchester Bonn und der Oper Bonn - fand den richtigen Zugang zu dieser stark von der Unerbittlichlkeit und Angst des Lebens in einer Diktatur geprägten Symphonie: ein nachdenkliches Moderato mit qualvollen Attacken, gefolgt von einem heftigen und aggressiven Scherzo. Der 3. Satz Allegretto - Largo - Più mosso transportierte eine melancholische bis unruhige Stimmung und der ruhig startende Schlußsatz entwickelt sich zu einem lebhaften Abschluss, der kein Triumph ist, sondern ein Sieg unter Vorbehalt.