Seelenschilderung vor symbolischer Landschaft
Eigentlich sollte Tschaikowskys Oper nicht Eugen Onegin heißen, sondern Tatjana, denn nicht dem titelgebenden Schnösel gehört das Mitgefühl des Publikums, sondern der von ihm verschmähten Frau. Tschaikowsky bezeichnete seine Oper ausdrücklich als "Lyrische Szenen", und jede Inszenierung, die auf die Musik hört, muß einen Weg finden, sich auf die inneren Bewegungen der Figuren, auf intime und psychologisch feinfühlige Motive und leise Gefühlsregungen zu konzentrieren. Der neuen Karlsruher Inszenierung gelingt das in einer durchweg werkgemäßen und damit überraschungsfreien, aber auch etwas nüchtern-leidenschaftslosen Weise, die getragen von den famosen Sängern und Musikern gestern eine gute Premiere feierte.
Worum geht es?
Ort und Zeit: Russland um 1830
1. Akt: Der Zufall ist das Zusammentreffen zweier nicht verbundener Kausalketten und Eugen Onegin handelt von der emotionalen Ungleichzeitigkeit solcher Zufälle. Auf einem russischen Landgut lebt die junge Tatjana Larina mit ihrer Familie. Ihre Schwester Olga ist mit dem Dichter Lenski verlobt. Dieser bringt eines Tages seinen Nachbarn Eugen Onegin mit, einen desillusionierten Schnösel. Das Herz hat bekanntlich seine Gründe, die der Verstand nicht kennt. Beim ersten Zusammentreffen ist Tatjana ein junges, unerfahrenes, verträumtes Mädchen voller romantischer Sehnsüchte und Onegin stellt für sie die Verkörperung eines idealisierten, faszinierenden Mannes dar, auf den sie ihre Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte projiziert, was zu einer schnellen, intensiven, fast überwältigenden Verliebtheit führt, die sie in einem Liebesbrief verarbeitet, den sie Onegin nach einer Nacht voller emotionaler Aufruhr (die musikalisch berühmteste Stelle der Oper) schreibt und schickt. Doch Onegin kann Tatjanas Gefühle nicht erwidern und will sie anständigerweise auch nicht ausnutzen - er weist sie höflich, aber kühl zurück und erklärt, dass er nicht für die Ehe gemacht sei.
2. Akt: Auf einem Ball zu Ehren von Tatjanas Namenstag beginnt Onegin aus Langeweile und Trotz mit Olga zu tanzen und zu flirten. Dieses Techtelmechtel erzürnt den offensichtlich komplexbehafteten Lenski so sehr, daß er aus Eifersucht Onegin zum Duell fordert. Obwohl Lenksi an Schnöseligkeit Onegin kaum nachsteht, schenkt ihm Tschaikowsky eine schöne Arie, die er alleine kurz vor dem Duell singen darf. Dann stehen sich die beiden Männer gegenüber. Obwohl keiner der beiden es wirklich will, bleibt ihnen der Rückzug aus Angst vor Ehrverlust verwehrt. Das Duell aus Dämelei findet statt, Onegin tötet Lenski.
3. Akt: Das Problem beim Nichtstun ist, daß man nie weiß, wann man fertig ist. Onegin kehrt nach Jahren des Umherreisens im Ausland dann doch wieder nach Sankt Petersburg zurück. Er besucht einen Ball im Palast von Fürst Gremin und erkennt dort Tatjana wieder. Sie ist nun die Ehefrau des Fürsten und eine elegante Dame geworden. Onegin wird sich schlagartig bewußt, daß er sie liebt. Er fleht sie an, mit ihm zu fliehen. Onegins ganzes beziehungsloses Dasein war mit leerem Herzen gelebt. Mangels eines Kristallationspunktes, blieb seine Substanz amorph. Nun glaubt er erkannt zu haben, was ihm fehlt, doch die Erkenntnis kommt zu spät. Tatjana bleibt standhaft und hält an ihrer Ehe fest. Enttäuscht bleibt Onegin allein zurück.
Historisches
Eugen Onegin basiert auf dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin und wurde 1879 uraufgeführt. In Karlsruhe scheint es erst 1908 eine erste Aufführung gegeben zu haben, in der Badischen Landesbibliothek finden sich zuvor keine Programmzettel.
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Quelle: BLB (hier) |
Was ist zu sehen?
Die Geschichte von unerfüllter Liebe, verpassten Chancen und gesellschaftlichen Konventionen im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts wird im historischen Kontext belassen. Es gibt dennoch eine fast schon als üblich zu bezeichnende Mischung der Zeiten. Die Kostüme sind teilweise an den Entstehungszeitpunkt angelehnt oder kommen aus den Jahrzehnten danach, Gremin sitzt im modernen Rollstuhl. Das Bühnenbild von Nicola Turner zeigt keine konkreten Räume, sondern läßt die Handlung in einem "Geflecht aus Beziehungen und Emotionen" als "skulpturaler Wald aus schwarzer Wolle" spielen. Der Handlungsraum ist quasi von Lianen umgeben, im Hintergrund werden Farb- und Filmeffekte projiziert. Das ist halbwegs stimmungsvoll, vor allem recht düster und auch ein wenig beliebig und könnte noch besser zu Pelléas et Mélisande passen. Der Denkfehler besteht darin, daß Eugen Onegin nun wirklich kein kompliziertes Geflecht aus Beziehungen und Emotionen aufweist (da sind Karlsruher Opernbesucher als routinierte Experten für Händel-Opern komplexere Verhältnisse gewohnt), sondern eher übersichtlich angelegt ist. Die Metapher ist also nicht wirklich sinnvoll. Aber egal, visuell stört es nicht und Regisseurin Olivia Fuchs bleibt überraschungsfrei werkgetreu und schafft es, mit wenigen Mittel ihre Figuren angemessen zu charakterisieren, wobei die von ihr verwendeten Standardgesten wie aus dem Handbuch wirken. Manch dramatischer Aufschwung leidet unter einer gewissen Beliebigkeit, manche Einfälle bleiben wirkungslos, für den "leeren" Onegin bleiben kaum Ideen übrig. Die Titelfigur - von Tschaikowsky musikalisch eher stiefmütterlich behandelt, die berühmten Stellen haben Tatjana und Lenski - bleibt konturlos.
Was ist zu hören?
Johannes Willig und die Badische Staatskapelle musizieren eine breite Palette an Klangfarben und orchestrale Texturen, die Atmosphäre und Stimmung tadellos vermitteln: von der innig-zarten Melodie zu Überschwang und Ernüchterung, festliche Walzer- und Mazurka-Szenen - musikalisch ist mehr vorhanden als die Inszenierung hergibt.
Pauliina Linnosaari gehört der erste Akt. Sie überzeugt insbesondere in der bravourös gesungenen und gespielten Briefszene als anrührende Tatjana. Der zweite Akt gehört Jenish Ysmanov, der den Lenski mit hoher Stimmkultur eindrücklich und bewegend singt. Eugen Onegin ist zwar die Titelrolle, hat aber von Tschaikowsky nicht die wirkungsvollen und bedeutenden Stellen bekommen, erst im dritten Akt hat er eine schöne, aber kurze Arie: Kihun Yoon singt überzeugend gegen die Ideenlosigkeit der Regie zu seiner Figur an. Doch was dieser Onegin nun für ein Charakter ist, bleibt in dieser Inszenierung eine Leerstelle
Barbara Dobrzanska hat in dieser Spielzeit den Schritt zur Mezzosopranistin gemacht, gestern überzeugte sie als Larina, nächste Spielzeit singt sie Ortrud in Lohengrin und Santuzza in Cavalleria Rusticana. Konstantin Gorny nutzt die Arie des Fürst Gremin, um seine starke Bühnenpräsenz zu zeigen. Marie-Sophie Janke gefällt als Olga und macht diejenigen, die sie noch nicht als Octavian gehört haben, neugierig auf einen Rosenkavalier mit ihr. Und als selbstgefälliger Triquet trägt der als Gast agierende Eleazar Rodriguez im zweiten Akt Couplets vor. Der Badische Staatsopernchor hat manches zu tun und darf tanzen und schreiten und vor allem eindrücklich singen.
Fazit: Zum Abschluß der Saison bleibt sich die Karlsruher Oper treu: eine (in diesem Fall gerade so) ordentliche Inszenierung, die für Einsteiger geeignet ist, und bemerkenswert schön gesungen und musiziert wird.
PS: Wer erinnert sich an den letzten Eugen Onegin? Die Premiere war vor 20 Jahren am 18.06.2005. Robert Tannenbaum inszenierte, Jochem Hochstenbach dirigierte, die wunderbare Barbara Dobrzanska (und als Zweitbesetzung Rosita Kekyte) sang Tatiana, Edward Gauntt und Tero Hannula Onegin, Cenk Biyik und Klaus Schneider Lenski, Konstantin Gorny und Ulrich Schneider Gremin.
Besetzung und Team
Tatjana: Pauliina Linnosaari
Eugen Onegin: Kihun Yoon
Lenskij: Jenish Ysmanov
Olga: Marie-Sophie Janke
Larina: Barbara Dobrzanska
Fürst Gremin: Konstantin Gorny
Triquet: Eleazar Rodriguez
Saretzkij: Andrey Netzner
Ein Hauptmann: Sean Webster
Vorsänger: André Post
Filipjewna: Christina Niessen
Guillot: Wei Liu
Badischer Staatsopernchor
Statisterie des Badischen Staatstheaters
Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: Olivia Fuchs
Bühne & Kostüme: Nicola Turner
Chor: Marius Zachmann
Licht: Stefan Woinke