Sonntag, 17. November 2024

Leuchtfeuer (Ballett), 16.11.2024

Heterogene Dreifaltigkeit
Ein Handlungsballett als Uraufführung, eine deutsche Erstaufführung und eine Karlsruher Erstaufführung - der Ballettabend Leuchtfeuer bietet drei sehr unterschiedliche Choreographien. Da sollte für jeden etwas dabei sein, aber nicht alles ist unbedingt für jeden. Vom ballettliebenden Karlsruher Premierenpublikum gab es wie gewohnt viel Jubel und langen Applaus und wenn man an dieser zweiten Premiere der neuen Ballettdirektion etwas hervorheben mag, dann daß es Raimondo Rebeck und Kristína Paulin nicht nur in kurzer Zeit gelungen ist, eine Aufbruchsstimmung zu schaffen, sondern daß man insbesondere eine neue Karlsruher Kompagnie zusammengestellt hat, bei der man bereits viele individuelle und kollektive Stärken findet und auf deren weitere Entwicklung man sich freuen kann.

Eine ambitionierte und stimmungsvolle Uraufführung gab es von der neuen Hauschoreographin Kristína Paulin und zwar ein Handlungsballett, basierend auf Kafkas Romanfragment Das Schloß, in dem die Hauptfigur Landvermesser K. zwar vom Schloß beruflich in ein winterliches Dorf gerufen wird, dort aber nicht zu seinen Auftraggebern durchdringt. Kafka muß man selber lesen, medial vermittelt verliert er fast immer. Auch in diesem Fall. Einen roten Faden durch die Handlung kann Paulin nicht in ihre Choreographie einbetten und der Landvermesser K. mag zwar als Figur auf der Bühne sein, nicht aber als Charakter. K. ist keine Figur, die sich leicht definieren lässt: einerseits impulsiv, ungeduldig, rücksichtslos, teils entschlossen wirkend, aber auch unsicher und nachdenklich. Mit dem sprungstarken Daniel Rittoles in der Hauptrolle hat man einen körperlich dominanten Tänzer, für dessen komplexe Figur Paulin nicht die optimale Balance gefunden hat. Auch die anderen Romanfiguren dringen nicht durch und spielen eher eine Nebenrolle, Lucia Solari als Frieda und Carolin Steitz als Olga machen das Beste daraus und tanzen stark. Am besten gelingt Paulin die Charakterisierung der nebensächlichen Gehilfen, die von Leonid Leontev und Philip Sergeychuk amüsant dargestellt werden. Die seltsamen Romanfiguren mögen sich nur schwer charakterisieren lassen, aber Kafka ist auch Stimmung. Die Dorfgemeinschaft wirkt skurríl, für was das Schloß nun stehen mag, will die Choreographin nicht nachdrücklich zeigen. Das Undurchschaubare und Undurchdringliche bei Kafka wird für Paulin Alibi für Ungefähres. Höhepunkte sind die Massenszenen, bei denen Paulin (wie schon in Bolero) ihre Stärke ausspielt, aufregende Zuspitzungen zu choreographieren. Überzeugend sind das aus Lichtstrukturen bestehende Bühnenbild, Kostüme und Licht, die entscheidend zur gelungen Atmosphäre dieses Balletts beitragen . Besonders bemerkenswert ist die von Davidson Jaconello komponierte Musik, die zwischen Elektrofolklore und Musik von Franz Schubert spannende Momente schafft. 

Fazit: Eindrucksvolle Ensembles, ein stimmungsvolles und rätselhaftes Schloß, dessen Figuren nicht ganz durchdringen

Besetzung und Team: 
Choreografie, Inszenierung & Kostüme: Kristína Paulin
Komposition & Sounddesign: Davidson Jaconello
Bühne: Yoko Seyama
Licht: Mario Daszenies

K.: Daniel Rittoles
Frieda: Lucia Solari 
Olga: Carolin Steitz   
Gehilfen: Leonid Leontev, Philip Sergeychuk
Barnabas: Vitor Oliveira   
Gemeindevorsteher, Klamm: Lasse Caballero
Schwarzer: Pablo Polo  
Hans: Geivison Moreira   
Ballettkompagnie



Ballettdirektor Raimondo Rebeck zeigte als deutsche Erstaufführung A Journey of a Memory (UA 2019): Eine Reise einer Erinnerung. (Hmm, Marketingexperten raten immer dann dazu, Englisch zu verwenden, wenn man auf Deutsch eigentlich nichts zu sagen hat. Hier hätte man einen besseren Titel anstelle des doppelt kombinierten Singulars finden können). Laut Staatsballett: "In seiner sehr persönlichen Auseinandersetzung mit Abschied und Verlust zeigt er, wie Erinnerungen und Wahrnehmungen langsam, aber unaufhaltsam entschwinden". Ist dem so? Entschwinden hier Erinnerungen und Wahrnehmungen? Oder sind es nicht die Erinnerungen, die sich in diesem Ballett noch mal dramatisch verdichten? Wie dem auch sei, Rebeck zeigt mit diesem Werk ein zyklisches Steigerungsballett, das ruhig beginnt, sich zuspitzt und wieder zum Ausgangspunkt auf andere Weise zurückkehrt. Die Choreographie für zwei Paare und Kompagnie basiert auf Spitzenschuhen und klassischer Technik. Vier Tänzer stehen im Zentrum, ausdrucksstark getanzt von Dina Levin, Natsuka Abe, Lasse Caballero und Ledian Soto. Die gut getroffene Musikauswahl entspricht dem Steigerungsgedanken. (Was würden zeitgenössische Ballette übrigens nur ohne die Musik von Philipp Glass machen? Er entwickelt mit seinen Kompositionen einen Sog, der sich tanzen läßt, Rebeck hatte zuvor in Tanzkraftwerk bereits auf Glass gesetzt.) 

Fazit: Ein Ballett von klassisch anmutender Verträglichkeit

Besetzung und Team:
Choreografie, Inszenierung, Bühne & Kostüme: Raimondo Rebeck
Musik: Ezio Bosso, Frédéric Chopin, Philip Glass, Fazıl Say
Licht: Carlo Cerri
Beleuchtungseinrichtung: Mario Daszenies

1. Frau: Dina Levin 
2. Frau: Natsuka Abe 
1. Mann: Lasse Caballero 
2. Mann: Ledian Soto 
Ballettkompagnie



Raimondo Rebeck hatte sich ja fast schon darüber beklagt, das während der Ära Birgit Keil vom Badischen Staatsballett fast alles getanzt wurde, was Rang und Namen hat, viele Klassiker, große Choreographen - über zwei Jahrzehnte wurde man in Karlsruhe verwöhnt. Was soll nun noch kommen? Rebeck hat einen italienischen Klassiker aufgetan. Cantata von Mauro Bigonzetti wurde 2001 uraufgeführt und ist ein ausgesprochen italienisches Ballett, eine Huldigung an Süditalien. Für das dritte Ballett des Abends hat man Livemusik: traditionelle Musik und Folklore, gesungen und meistens begleitet vom Akkordeon und Tambourin. Am Anfang und Ende singt auch die Kompagnie, getanzt wird barfuß, die Tänzerinnen mit offenen Haar. Es geht um Männer und Frauen, Liebe und Eifersucht, das alles soll mediterran sein, vital und wild, fast animalisch, aber auch typisch italienisch, theatralische Gesten, zur Schau gestelltes Habitus. Das kommt bestimmt gut an, hat aber auch Längen und für manche Kompatibilitätshindernisse. Thomas Mann läßt die Titelfigur in seiner Künstlernovelle Tonio Kröger sagen: "Sammetblauer Himmel, heißer Wein und süße Sinnlichkeit ... Kurzum ich mag das nicht. Ich verzichte. Die ganze bellezza macht mich nervös. Ich mag auch all diese fürchterlich lebhaften Menschen dort unten mit dem schwarzen Tierblick nicht leiden." Ballett mag man diese getanzte Volksmusik teilweise gar nicht nennen, Höhepunkte gibt es trotzdem, insbesondere das Solo von Veronika Jungblut und das Engagement der ganzen Kompagnie.

Fazit: Wer gerne Primitivo di Manduria trinkt, dem könnte dieser Tanzstil gefallen

Besetzung und Team:
Choreografie & Inszenierung Mauro Bigonzetti
Originalmusik & traditionelle Musik: Assurd
Kostüme: Helena de Medeiros
Licht: Carlo Cerri
Beleuchtungseinrichtung: Mario Daszenies

Mit: Natsuka Abe, Marta Andreitsiv, Sophie Burke, Anzu Ito, Veronika Jungblut, Dina Levin, Maria Mazzotti, Lena Scherer, Lucia Solari, Carolin Steitz, Mio Sumiyama, Sara Zinna
Lasse Caballero, Baris Comak, Aaron Kok, Khanya Mandongana, Niccolò Masini, Jasper Metcalfe, Geivison Moreira, Vitor Oliveira, Pablo Polo, Philip Sergeychuk, Ledian Soto, Filippo Valmorbida