Sonntag, 16. Februar 2025

Büchner - Woyzeck, 15.02.2025

Abiturthema im Bundesland der Bildungsverlierer
Schon wieder Woyzeck? Ja, der Stoff wird mal wieder Abiturthema. Das mag manche überraschen, das Bundesland erlebt seit Winfried Kretschmanns Amtsübernahme als Ministerpräsident einen desaströsen Bildungsabstieg. Über Jahrzehnte gehörten Bayern und der Südwesten zur Bildungsspitze im Bund, die Frankfurter Allgemeine schrieb (hier): "Eine Sonderauswertung mit einem Vergleich der Bundesländer hatte bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 ergeben, daß Bayern und Baden-Württemberg über dem OECD-Durchschnitt lagen, und zwar recht deutlich, und Sachsen nur wenig darunter. Diese drei Bundesländer hatten dabei die stringentesten institutionellen Regelungen: die Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlungen, eine stärkere organisatorische Kontrolle der Schulen, etwa über die Standardisierung des Stoffs, zentrale Prüfungen, regelmäßige Tests und eine Rechenschaftspflicht der Schulen und ihrer Lehrer. " Inzwischen sind Bayern (dort gibt es auch die wenigsten Schulabbrecher) und Sachsen an der Spitze, die Tageszeitung Die Welt konstatierte (hier): "Kein anderes Bundesland ist in der letzten Dekade so stark in der Bildungsqualität zurückgefallen wie Baden-Württemberg. Fast jeder fünfte Viertklässler schafft mittlerweile in Mathematik und Deutsch nicht mal mehr das Mindestniveau." Das pädagogische Scheitern fördert Ungleichheit. Bildung und Wissen sind wieder Distinktionsmerkmale, denn leistungsstarke Schüler haben wieder deutliche Vorteile, wenn sich das Niveau nach unten orientiert. Ein weiteres Indiz für die Verblödung von Jugendlichen: immer mehr fallen durch die theoretische Führerscheinprüfung, 2024 sollen es bundesweit fast 50% gewesen sein. Wo bereits die Vermittlung einfachster Fähigkeiten als unerträglicher Leistungsdruck diskreditiert wird, darf man sich über solche Resultate nicht wundern. Es wirkt, als ob es in den letzten Jahren politisch gewollt sei, die Lebensperspektiven von Kinder frühzeitig zu verbauen, damit sie sich später politisch für den paternalistischen Staat entscheiden und in schlechter Tradition Freiheitsrechte gegen Versorgungsansprüche abgeben. Die staatsinterventionistischen Parteien scheinen sich allerdings teilweise verrechnet zu haben, denn bei Jungwählern gibt es Überraschungen. Passenderweise hat sich das Bundesland immerhin auf der Phrasenseite angepaßt: "Wir können alles. Außer Hochdeutsch." wurde als überambitioniertes und deshalb nicht mehr zeitgemäßes Landesmotto abgelöst, nun hat man ein inhaltsleeres, orthographisch dubioses, nicht jeden Humor ansprechendes und auch entlarvend wirkendes "The Länd". 
Schon wieder Woyzeck (mehr dazu hier (2019) und hier (2023)). Manch einer wird sich gewünscht haben, daß man den kurzen Text doch lieber im Jugendtheater oder im Studio inszeniert hätte, statt ihn ins Kleine Haus zu bringen. 75 pausenlose Minuten scheinen für eine vollpreisige Abendvorstellung etwas unterdimensioniert. Doch immerhin gelingt hier eine ganz ordentliche Inszenierung, die in der Titelrolle mit Jannik Süselbeck bravourös besetzt ist.

Worum geht es?
Woyzeck hat es nicht leicht, auf mehreren Ebenen wird er mit Problemen konfrontiert. Woyzeck kommt aus bildungsschwachen Verhältnissen und ist mittellos. Er hat nur schlechte Jobs und keine Perspektiven. Einem Arzt verkauft er sich für medizinische Experimente. Er liebt Marie, mit der er ein Kind hat, doch sie ist unzufrieden mit ihrem Leben und läßt sich auf eine Affäre mit dem Tambourmajor ein. Woyzecks Eifersucht wächst und treibt ihn in den Wahnsinn, er erleidet einen zunehmenden psychischen Verfall. Am Ende steht die Flucht in die Gewalttat, doch dabei erweist sich Woyzeck als erbärmlicher Feigling und Verlierer: Er läßt seine Wut nicht am Tambourmajor aus, sondern richtet sie gegen eine Schwächere: Er tötet Marie.

Was ist zu beachten?
Der viel zu früh verstorbene Georg Büchner (*1813 †1837) hat Woyzeck als unfertiges Dramenfragment hinterlassen. In der englisch geprägten Technologiesprache  würde man das Drama als MVP bezeichnen, als Minimum Viable Product. Ein unfertig kurzes Episodenwerk, bei dem vieles unklar bleibt und das damit raumgebend für Interpretationen wird. Das Werk entstand ab Juli 1836 in Zeitgenossenschaft zu einem bekannter gewordenen englischen Werk: Charles Dickens' gesellschaftskritischem Roman Oliver Twist. Büchner nahm eine tatsächliche Gegebenheit zum Ausgangspunkt. 1821 ermordete ein 41jähriger Gelegenheitsarbeiter namens Johann Christian Woyzeck seine frühere 46jährige Geliebte mit sieben Messerstichen. Er wurde zum Tode verurteilt und 1824 in Leipzig hingerichtet. Bis dahin hatte sich eine Diskussion über die Zurechnungsfähigkeit des Täters entwickelt. Büchner hatte den Fall verfolgt und schrieb sein unvollendetes Drama, in dem er Anteilnahme an Woyzeck nahm und den Mörder als Opfer in gewisser Weise entlastete. Büchner kritisierte hellsichtig  die damals gültigen Zynismen, es gibt thematisch von vielem etwas: eine berufliche Hierarchie durch die Militärangehörigkeit, Kritik an fragwürdigen medizinischen Experimenten, Armut und Verelendung, Gewalt und Eifersucht und eine Titelfigur als psychisch erkrankte Person. Es gibt dubiose Figuren wie den Hauptmann, den Doktor und den Professor (in Karlsruhe gestrichen), doch interessanterweise gibt es keinen Pastor, Pfarrer oder sonstigen Seelenbeauftragten. Vieles läßt sich auf heutige Gegebenheiten schlecht aktualisieren: Das Militär ist bei Büchner bspw. nicht militaristisch oder zackig, Woyzeck hat auch keinen Zugang zu Waffen, für Maries Ermordung kauft er ein Messer. Auch Medizin und Wissenschaft sind nicht vergleichbar mit heutigen Gegebenheiten. In gewisser Weise ist der Text ein Gerümpel veralteter Zynismen. Übrig bleibt heute nur noch die Triebnatur des Menschen, das Eifersuchtsdrama im prekären Milieu, eine psychisch auffällige Titelfigur und ein Mord. Darauf baut auch die Karlsruher Inszenierung auf.

Was ist zu sehen?
Ein dystopisch wirkender Beginn: Rauchschwaden, ein angedeuteter Panzer, mit großen Plastikwaffen spielende Kinder. Doch die Regisseurin führt die angedeutete Militarisierung nicht weiter, die restliche Inszenierung ist nicht weiter verortet. Auch das grundsätzliche Problem des Fragments bleibt bestehen: vieles wird nicht entwickelt und bleibt Andeutung. Einige Rollen sind gestrichen, deren Text legt man teilweise den übrig gebliebenen Figuren in den Mund, die sinnvoll aktualisiert sind. Woyzeck ist zwar psychisch auffällig, doch vor allem ein Opfer einer Brutalisierung seiner Umwelt. Hauptmann, Tambourmajor und Doktor werden zum sadistischen Trio, die vereint das Omega-Tier Woyzeck quälen. Der Hauptmann, gespielt von Timo Tank ist ein Golf-spielender Schwätzer, der von Gunnar Schmidt dargestellte mitleidslose Doktor wirkt mehr wie ein unheimlicher Schlächter als wie ein Mediziner und Jannek Petri spielt den Tambourmajor als triebgesteuerter Oberproll. Lucie Emons spielt die undankbare Rolle der Marie als verzweifelte junge Frau, der bewußt ist, daß mehr Leben in ihr steckt als die auferlegten Beschränkungen zulassen. Und wer ist Woyzeck? In der Karlsruher Inszenierung ist er psychisch auffällig, aber kein Fall für die Psychiatrie. Jannik Süselbeck spielt ihn vielmehr als traurige, depressive Leidensfigur - und das eindringlich und filmreif! Woyzeck mordet nicht aus Wut, keine Eifersucht glüht aus ihm, er ist überfordert und verzweifelt, der Mord an Marie wirkt, als würde er sie aus Liebe zu ihr von der irdischen Qual befreien. Ein Mord ganz kalt und fast beiläufig, eine Tat, die das Publikum ein wenig ratlos zurück läßt, denn die Regie führt die Charakterisierung theatralisch nicht ganz zu Ende: dieser depressive Woyzeck hätte sich selber auch das Leben nehmen müssen.

Fazit: Schon wieder Woyzeck. Wer das Stück kennt, für den lohnt sich der Besuch dieses kurzen Stücks eigentlich hauptsächlich wegen Jannik Süselbeck, der starke Szenen hat und einen erinnerungswürdigen Woyzeck spielt. Ansonsten ist das zum Kennenlernen eine gelungene Umsetzung des Stoffes, mit allen Stärken und Schwächen des hoffnungslosen Textfragments. 

PS: Akustisch war die Premiere suboptimal, manches wurde durch die Bühnenmusik übertönt, manches schien undeutlich gesprochen oder durch akustische Gegebenheiten eingeschränkt. 

Besetzung und Team
Woyzeck: Jannik Süselbeck
Marie: Lucie Emons
Hauptmann: Staatsschauspieler Timo Tank
Tambourmajor: Jannek Petri
Arzt: Gunnar Schmidt
Freund: Hadeer Hando

Regie: Mizgin Bilmen
Bühne: Sabine Mäder
Kostüme: Martina Lebert
Musik & Zeichnungen: Charlie Casanova
Licht: Christoph Pöschko