Ein guter Spielplan hat von allem etwas und in dieser Spielzeit präsentiert die Karlsruher Oper gleich zwei Raritäten, zuerst die beim Publikum sehr erfolgreichen Wreckers (eine Wiederaufnahme ist für 2025/26 angekündigt), nun die deutsche Erstaufführung der 1786 (in Zeitgenossenschaft zu Mozarts Hochzeit des Figaro) in Fontainebleau uraufgeführte Phèdre des vergessenen Jean-Baptiste Lemoyne (*1751 †1796), die in Karlsruhe ihre erste szenische Aufführung nach über 200 Jahren erlebt. Phèdre erwies sich gestern als eine legitime Wiederentdeckung einer spannenden Oper, die man Glucks Alceste zur Seite stellen kann, insbesondere da es Lemoyne gelang, große Charakterrollen zu erschaffen, die gestern grandios gesungen wurde: die Premiere wurde zum Triumph für Ann-Beth Solvang und Armin Kolarczyk.
Worum geht es?
Phädra ist die Schwester von Ariadne, die Opernbesucher in der Regel auf Naxos antreffen, wo sie von Theseus zurückgelassen klagt bis Bacchus sie abholt und mitnimmt. Theseus heiratet später (nach einer ersten Ehe und der Geburt seines Sohnes Hippolyt) Phädra, die sich in ihren Stiefsohn verliebt.
1. Akt. In einem Tempel bei Tagesanbruch. Hippolyt mit einer Gruppe von Jägern bittet die keusche Göttin Diana (Artemis) um Wohlwollen und Schutz. Die Jagdgesellschaft zieht los, Phädra sieht ihren Stiefsohn sich entfernen. Gequält von unerfülltem Begehren verliert sie kurzzeitig die Fassung. Die sie begleitenden Priesterinnen, die die weniger keusche Göttin Venus (Aphrodite) anrufen wollen, werden fortgeschickt. Ihrer Vertrauten Oenone gesteht Phädra ihre unerfüllbare Liebe zu Hippolyt. Da trifft die Nachricht ein, daß der auf Reisen befindliche Theseus getötet wurde. Die Minister sehen nicht Hippolyt, sondern Phädras Sohn Akamas als Erbfolger. (Mythologische Abschweifung: Akamas und sein Bruder Demophon nehmen als Erwachsene am trojanischen Krieg teil und sind zwei der 40 Helden im Bauch des hölzernen Pferdes).
2. Akt. Phädra und Oenone beraten sich. Der trauernde Hippolyt scheint keinen Anspruch auf den Thron zu erheben. Die liebende Phädra würde ihm am liebsten beides geben: sich und den Thron. (In Karlsruhe erfolgt an dieser Stelle die Pause). Hippolyt erscheint, Phädra will sich selbst dem Stiefsohn schmackhaft machen und trägt sich ihm in drei Runden an. Zuerst schlägt sie ihm vor, die Krone zu nehmen und Stiefvater ihren Sohnes (seines Halbbruders) zu werden. Hippolyt lehnt ab, Phädra weicht aus und beruft sich auf ihre Trauer: in Hippolyt erkennt sie seinen Vater, seine Stimme erinnert sie an ihren Gatten. Sie bietet sich ihm als Ehefrau an. Hippolyt stattdessen schlägt vor, seine Heimat zu verlassen. Nun gesteht Phädra ihre Liebe, Hippolyt warnt sie entsetzt vor der Rache der Götter. Erneut trifft eine Nachricht ein: Theseus lebt und kehrt gerade zurück. Das Volk jubelt, Phädra zieht sich zurück, Hippolyt weigert sich, seinen Vater zu Phädra zu begleiten.
3. Akt. Oenone will Phädra schützen und erklärt Theseus, daß Phädras Ehre durch den übergriffigen Hippolyt verletzt wurde. Theseus glaubt die Lüge, obwohl Hippolyt seine Unschuld beteuert, Phädras Geheimnis aber nicht offenbart. Theseus ruft Neptun (Poseidon) zur göttlichen Bestrafung seines Sohnes auf und verstößt ihn aus Athen. Oenone berichtet Phädra von ihrer falschen Beschuldigung und Hippolyts erzwungenen Gang ins Exil und stürzt sie damit in tiefe Verzweiflung. Ein Gewitter zieht auf. Auch im dritten Akt trifft zum dramaturgisch richtigen Zeitpunkt eine Nachricht ein: Hippolyt ist tot. Neptun hat Theseus' Fluch erfüllt und dessen Sohn bestraft. Phädra gesteht die Wahrheit (und offenbart damit Oenones Lüge), beteuert Hippolyts Unschuld und stirbt.
Historisches
Phädra ist neben Medea eine der großen toxischen Frauenfiguren der Antike. Der Textdichter François-Benoît Hoffmann (*1760 †1828) hat über beide ein Libretto geschrieben: die Rückkehr der von Cherubini vertonten Medea (Medée, UA 1797) ist bspw. Maria Callas zu verdanken, auch heute noch findet man Medée gelegentlich auf den Spielplänen. Lemoynes Phèdre wurde von der Callas nicht wiederbelebt, das dauerte bis vor wenigen Jahren, als der Palazetto Bru Zane, eine Organisation, die sich vergessener französischer Opern widmet, das Notenmaterial editierte und konzertant aufnahm. Phèdre war damals beim Publikum erst erfolgreich und wurde dann vergessen. Die berühmteste Phädra ist übrigens die französische Bearbeitung durch Racine, dessen Phèdre auch in Karlsruhe ("Auf allerhöchstes Begehren") 1814 in Schillers Übersetzung gespielt wurde (mehr hier).
Was ist zu beachten?
Phädra ist in der griechischen Mythologie die Geschichte der verschmähten und abgewiesenen Frau, die sich rächt, indem sie den unwilligen Mann ihrer Begierde mit falschen Anschuldigungen verleumdet. Das hat aktuellen Bezug und kann in Zeiten aktualisiert werden, die gerne vorverurteilen und unüberprüft an den Pranger stellen. Sowohl Übergriffe als auch Falschbehauptungen sind zerstörerisch. Und nirgendwo sollen falsche Verdächtigung so häufig anzutreffen sein wie im Sexualstrafrecht, konstatieren Juristen. Aus gerichtsmedizinischer Sicht sollen 30 bis 40% der Fälle vorgetäuscht sein, aus juristischer Sicht scheinen ebenfalls mindestens ein Drittel aller Vorwürfe falsch zu sein. Interessanterweise findet man dazu offiziell anscheinend keine Aussagen oder bundesweit repräsentative Zahlen, was in Zeiten feministisch geprägter Politik eher den Verdacht nahelegt, daß die Zahlen stimmen oder höher sind. Phädra ist also keine Oper aus der Märchenwelt des Prinzessinnen-Feminismus, in der alles Männliche das Böse darstellt. Auf der anderen Seite stehen allerdings die milden Urteile gegen überführte Vergewaltiger, manche erinnern sich ggf. an den medial Aufsehen erregenden Fall eines afghanischen Täters, der nach der Vergewaltigung eines elfjährigen Mädchens in Neustrelitz auf Bewährung verurteilt wurde.
Ein gerade aktuelles Beispiel erfundener sexueller Belästigungsvorwürfe kommt aus der Partei, die wie keine zweite als Klientelpartei eine hypermoralische Verbohrtheit an den Tag legt. Gegen den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar wurden kurz vor dem Berliner Landesparteitag aus seiner Partei Belästigungsvorwürfe erhoben. Der öffentlich-rechtliche RBB griff das ohne ausreichende Prüfung auf und berichtete falsch (inzwischen hat der Sender alle Beiträge dazu gelöscht). Bei den Grünen begann die Inquisition, man rottete sich gegen den Parteikollegen zusammen, die Vorwürfe wurden nicht geprüft, und man vergab seinen Listenplatz für die anstehende Bundestagswahl an einen Vertrauten von Robert Habeck (ein Schelm, wer hier eine Intrige vermutet). Doch Gelbhaar erkannte, daß er in der kafkaesken Situation war, seiner Partei und den Medien seine Unschuld beweisen zu müssen. Er wehrte sich und das kriminelle Kartenhaus aus Verleumdung, Intrige und Rufmord brach zusammen. Aktuell geht man davon aus, daß die Grünen-Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Feminismus die Vorwürfe fingiert und eine Zeugenaussage erfunden hat. Inzwischen hat sie ihr Mandat niedergelegt und ist aus der Partei ausgetreten. Gelbhaar erstattet Anzeige wegen Verleumdung. Ob die Grünen nun doch wieder zum Prinzip der Unschuldsvermutung zurückfinden, sich entschuldigen und ihren Parteikollegen offiziell rehabilitieren, ist abzuwarten. Zumindest der Grüne Finanzminister in Baden-Württemberg Danyal Bayaz hat seiner eigenen Parteilinie widersprochen: "Die Unschuldsvermutung ist eine zentrale rechtsstaatliche Errungenschaft, sie sollte auch dann gelten, wenn die Grenze zwischen juristischen und moralischen Aspekten nicht ganz klar ist". Bei einigen Grünen_innnen wird das auf taube Ohren stoßen. Prominente Beispiele für Verleumdungsaktionen sind zur Genüge vorhanden, ob Jörg Kachelmann, der Sänger von Rammstein oder nun der Grünen-Bundestagsabgeordnete - es ist ein wiederkehrendes Motiv. Leider sind die Theater stark konformistischen Zwängen unterworfen, sonst hätte man den Phädra-Stoff längst wieder aufgreifen müssen. Da jedes weit von der stabilen Mittellage ausgelenkte Pendel vehement auf die gegenüberliegende Seite zurückschwenkt, scheint es nur eine Frage der Zeit, bis ein männliches #MeToo über weibliche Lügen thematisiert wird. Die Karlsruher Inszenierung nimmt weder eine kritische Haltung noch irgendeine Form der Aktualisierung vor. Toxische Weiblichkeit und das Klima der Unterstellung und Hetze stehen nicht im Mittelpunkt der Inszenierung, sondern laut Regisseur die Unbeherrschbarkeit von Liebe. Ein überraschungsfreier, aber stabiler und konfliktfreier Ansatz, der durch Zurückhaltung geprägt ist.
Was ist zu sehen?
Das Bühnenbild ist auf der Drehbühne zweigeteilt: eine große Treppe und glatte Wände als Repräsentationsraum, Phädras obsessive Liebe findet hingegen in einem dunklen, fensterlosem Raum statt, ein Verlies für ihre Liebe, auf dessen Wände sie mit Kreide dutzendfach den Namen ihres heimlich Geliebten geschrieben hat. Bei den Kostümen hat man sich "vom Viktorianischen Zeitalter inspirieren lassen: Eine Epoche zwischen Antike und Gegenwart, in der man buchstäblich im Korsett gesellschaftlicher Zwänge steckte, und die zugleich ermöglicht, den herrschaftlichen Hintergrund der Handlung zu zeigen." Gesellschaftliche Zwänge sind allerdings nicht das Thema der im Herrschaftsmilieu spielenden Phèdre. Dunkles Blau und Schwarz herrschen vor, unter Phädras schwarzem Kleid kann man bereits das leidenschaftliche Rot erkennen, das sie ab dem 2. Akt trägt. Oenone ist in hellerem Grau, gelb für die Priesterinnen, die Minister tragen Zylinder, die stimmungsvolle Ausleuchtung greift die Situationen sinnfällig auf. Operndirektor Christoph von Bernuth führt selber Regie, fast schon bescheiden, denn ohne dabei szenisch aus dem Vollen zu schöpfen - die Inszenierung bleibt bis auf wenige Ausnahmen überraschungsfrei stabil. Der Regisseur verzichtet z.B. auf die Visualisierung der Verleumdung Hippolyts durch Oenone bei Theseus, den man im stürmischen Übergang vom zweiten und dritten Akt gut hätte inszenieren können. Eindringlich hingegen mittels Videoprojektion der Sturm, der den Tod Hippolyts verursacht. Eine ordentliche Inszenierung.
Was ist zu hören?
Phèdre ist musikalisch insbesondere durch zwei Aspekte geprägt: Die Dramatik steigert sich nicht wellenförmig, sondern in Stufen: jeder Akt übertrifft den vorherigen. Der erste Akt ist in jeder Hinsicht der längste, zeitlich mit knapp einer Stunde, szenisch durch die etwas langwierige Vermittlung der Ausgangssituation. Man sollte sich beim Gang in die Pause nicht entmutigen lassen, die Höhepunkte kommen erst noch: im zweiten Akt ist es das Zusammentreffen von Phädra mit Hippolyt, im dritten Akt Theseus Wut, die Konfrontation mit seinem Sohn und das dramatische Ende. Ein zweiter Aspekt ist die musikalische Form: Lemoyne ist nicht der begnadeste Melodiker, aber er überrascht durch die Wirkungskraft seiner Dramatik, die insbesondere Phädra und Theseus zu Charakteren außerhalb der Schablone macht. Phädra ist eine Figur der Stimmungsschwankungen, Ann-Beth Solvang lotet die Untiefe zwischen heimlicher obsessiven Liebe, Hoffnung und Verzweiflung sängerisch wie szenisch grandios aus. Ihr Stimme kann vor Aufregung vibrieren, hoffnungsvoll leuchten, flehentlich stocken und verzweifelt brechen. Ein ganz großer Auftritt, mit der sie die Herzen des Publikums eroberte. Armin Kolarczyk kann als Theseus erneut eine große Rolleninterpretation seinem so umfangreich erfolgreichen Repertoire hinzufügen. Seine Anrufung Neptune, seconde ma rage zu Beginn des dritten Aktes ist der intensive Höhepunkt der Oper.
Für Hippolyt hat man mit Tenor Krzysztof Lachman einen Gast engagiert, dessen elegante Stimme überzeugte. Zwischen den dramatischeren Rollen und Stimmen blieb er allerdings ein wenig im Hintergrund. In der kleineren Rolle als verleumderische Œnone konnte Anastasiya Taratorkina mit beeindruckend schöner Stimme auftrumpfen, sehr schön auch das hoffnungsvolle Duett mit Phädra Le doux accent de la nature. Die vom Regisseur hinzugefügte stumme Rolle von Theseus' und Phädras vernachlässigtem Sohn Acamas wird von Philip Hohner mit hohem Engagement gespielt.
Der von Ulrich Wagner geleitete Badische Staatsopernchor gefiel mit dramatischen Schwung und einem perfekten Diminuendo in der Schlußnote. Mit Attilio Cremonesi hat man einen Dirigenten engagiert, der Experte für das 18. Jahrhundert ist und bei den Händel Festspielen Siroe dirigiert. Cremonesi hat mit den Musikern der Badische Staatskapelle an der historischen Aufführungspraxis gefeilt und das Ergebnis überzeugt: ob Naturhörner oder Flöte, Zuspitzung oder stockende Momente: immer wieder gibt es überraschende Momente, die die Aufmerksamkeit in den Orchestergraben lenkt.
Fazit: Bravo an alle, insbesondere an Ann-Beth Solvang und Armin Kolarczyk sowie für den Mut zur Rarität.
Besetzung und Team:
Phèdre: Ann-Beth Solvang
Hippolyte: Krzysztof Lachman
Thésée: Armin Kolarczyk
Œnone: Anastasiya Taratorkina
Un Grand de l`Ètat: Oğulcan Yılmaz
Akamas: Philip Hohner
Badischer Staatsopernchor
Musikalische Leitung: Attilio Cremonesi
Regie: Christoph von Bernuth
Bühne & Video: Oliver Helf
Kostüme: Karine Van Hercke
Licht: Stefan Woinke
Chor: Ulrich Wagner
@anonym: vielen Dank für den Hinweis, den ich aufgegriffen habe
AntwortenLöschenLiebe Frau Honigsammler,
AntwortenLöschenschreiben Sie auch für die BNN? Oder holt man sich dort bei Ihnen die Inspiration? Die Phedre-Kritik in der Zeitung hat manche Ähnlichkeiten zu ihrer Nachtkritik, sodass ich vermuten wollte, Sie sind Frau Steppeler!?!
Zuerst eine Antwort auf Ihre Fragen: Nein! Wir sind ein Autorenkollektiv von Theaterbesuchern, deren beruflicher Hintergrund nichts mit unserem Hobby zu tun hat. Eine Verbindung zur Presse besteht nicht. Wir lesen die BNN nicht und können nicht beurteilen, ob dieses Besuchertagebuch irgendwem als Inspiration dient. Und wenn, dann stört es uns bisher nicht. Gedankenreichtum besteht im Primat des Gebens.
Löschen@anonym: Vielen Dank für Ihre lustige Einschätzung zum BNN-Verdacht. Wie heißt es so passend: Der Ton macht die Musik. Das gilt insbesondere auch für Texte. Den Ton interpretiert der Leser nach seinem Temperament, manchmal wird der interpretierte Tonfall auch auf den Autor projiziert, was dann regelmäßig für Mißverständnisse sorgt.
AntwortenLöschenDer Weg ist das Ziel. Von Autorenseite wird beim Schreiben dieses Tagebuchs viel gelacht, denn hier steckt viel Schabernack drin, den Leser erst zu identifizieren haben. Falls sich wirklich jemand durch die persönlichen Momentaufnahmen dieses Tagebuch mühen will, dann ist vielleicht als Lesehinweis dienlich, alles stets auf Ironie, Zuspitzung und andere Humor- und Distanztechniken abzuklopfen. In der Übertreibung liegt die Anschaulichkeit. Wer also das Lachen nicht spürt, hat dieses Tagebuch i.d.R. nicht autorengerecht gelesen und muß selber mit den Konsequenzen zurecht kommen. Den Autoren sind Nebenwirkungen nicht anzurechnen.