Sonntag, 29. September 2024

Stockmann - Die rote Mühle, 28.09.2024

Fehlstart mit grotesker Moralschmonzette
Die erste Premiere des neuen Schauspieldirektors Claus Caesar ist eine Uraufführung und wurde ambitioniert angekündigt. Es sollte ein großer Wurf werden, ein Konstrukt, das scheinbar Wichtiges verhandelt: die Rückkehr des Paternalismus, mit dem die postmaterialistische Welt von Innen verändert wird. Doch was ein Konzentrat sein müßte, entpuppte sich als dünner Aufguß einer ungewöhnlich schlichten Handlung, die wild zusammenkonstruiert, aber nur durch einen schwachen Faden verbunden ist. Was als ambivalent angekündigt war, bewegte sich im Ungefähren und Plakativen, Schlagworte endeten phrasenhaft, teilweise schön inszenatorisch verpackt, aber inwendig ohne Substanz. Die "Moral" der als Groteske inszenierten Handlung hätte man im Kindergarten erzählen können. Wären da nicht starke Schauspielerleistungen zu sehen gewesen, hätte es ein Fiasko gegeben. 

Worum geht es?
Die rote Mühle ist ursprünglich die Geschichte eines Menschenversuchs, bei dem man einen Protagonisten zum konform agierenden Subjekt umformatieren möchte. Das Programmheft gibt Hinweise zu Ferenc Molnárs Originalstoff aus dem Jahr 1924, der erfolglos blieb: Dem Teufel wird die neueste Erfindung präsentiert: Eine Menschenverderbungsmaschine. Erprobt wird sie an einem guten Menschen namens János, der sich zum "Industriellen und Politiker" verwandelt und "das wahre Böse" kennenlernt: "Es fühlt sich ganz natürlich, normal und rational an". "Am Ende ist es eine kleine getrocknete Blume, die János an seine Menschlichkeit erinnert – und die gesamte Maschine zum Einstürzen bringt."

So weit, so schlecht. Was Stockman daraus macht, wird nicht wirklich besser:

Sektenähnlich agierende Teufel, die hinter einer finanziell potenten Firma namens ForNa.Tech stecken, wollen Menschen für sich werben, indem sie sie als Angestellte ködern, ihnen gut bezahlte Jobs geben, bei denen sich sich erst in scheinbar wichtigen Themen (Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Soziales) ausleben können, um sie dann in ihre dubiosen Geschäfte zu verstricken: vom Mitläufer zum Mittäter. 
Die größte Herausforderung ist dabei Noël Mori - ein realitäts- und arbeitsscheuer Taugenichts, dem ForNa.Tech erst einen Millionengehalt anbieten muß, damit er einen Arbeitsvertrag unterschreibt. Mori läßt sich täuschen, wird zum Mittäter, durchschaut dann doch die Manipulation und wendet sich gegen die Teufel. Man erfährt, daß er gelyncht wurde.

Was ist zu beachten (1)?
oder
Hier geht's um alles, vorrangig aber um nichts richtig
Das Programmheft weiß sich gar nicht einzubremsen: "Es ist ein absurdistisches Stück über gleichermaßen absurd-neurotische Verkorkstheit der Globalisierung. Über Greenwashing. Über die Zukunft der Moral. Über Industrien, die uns abhängig machen. Darüber, daß ohne unsere postmodernen Suchtprobleme in dieser Welt nichts mehr läuft. Und darüber, daß wir uns eine Rettung der Welt nicht vorstellen können, ohne auch den Kapitalismus mitzuretten. Vor allen Dingen aber darüber, daß die „Kapitalismuskritik“ oft nur ein selbstbeschwichtigendes Streicheln ist – und daß da draußen noch echte alternative Visionen für unsere Welt warten."
Uiuiuiuiuiui! Da geht man scheinbar aufs Ganze. Doch Nein! So viele Schlagworte man auch fallen läßt, so viele Phrasen man auch drescht, um sich in den Vordergrund zu spielen, tatsächlich müffelt man im eigenen ideologischen Hinterzimmer. Wenn man all den Falschbehauptungen des Programmhefts widersprechen wollte, müßte man die ganze Nacht durchschreiben.

Das Badische Staatstheater kommentiert bspw: "Ein Großunternehmen besetzt den Ort des Diabolischen" - willkommen in der rückständigen Welt des Steinzeitkommunismus. Ein Großunternehmen, ein Konzern sogar, ein Feindbild, das gerne bemüht wird.  Eine Firma möchte "ihren Aktionären demonstrieren, wie sich menschliches Verhalten unaufdringlich verbessern läßt". Uiuiuiuiuiuiui. Wieso Aktionäre -und damit die Öffentlichkeit- das unaufdringlich demonstriert bekommen sollen, bleibt eine der vielen Logiklücken.

Ein Aussteiger soll "in die Unternehmenskultur integriert werden". Der Autor "möchte seine Fassung der Roten Mühle in der Gegenwart ansiedeln, in der Welt eines profitorientierten Großkonzerns, der sich den Umbau der Gesellschaft in Richtung einer nachhaltigen Green Economy auf die Fahnen schreibt. Dafür will er eine entsprechende Entscheidungsarchitektur entwickeln, die hochproblematisch ist, weil sie demokratische Prozesse unterläuft. Um die Funktionsfähigkeit dieser Mechanismen zu demonstrieren, sucht die Firma nach einem Außenseiter, einem an Karriere und sozialen Status desinteressierten Freak, den sie umprogrammieren kann. Soweit die Ausgangssituation."
Zeitgenössisch aktuell ist eine andere Hypothese: Nicht Großunternehmen, sondern vielmehr Obrigkeiten besetzen den Ort des Diabolischen, insbesondere Politik und Institutionen und ihre Bürokratie! Statt eines  "Großunternehmens" hätte Stockmann ein Amt, eine politische Organisation oder ein Ministerium als Ort des Diabolischen wählen müssen. 

Laut Autor handelt Die Rote Mühle von "Moral im Kapitalismus" und ist deshalb "so heutig", weil es die Frage stellt, wie man zu "konsensfähigen Verhaltensrichtlinien finden kann, zu einem Handwerkszeug der Moral". Wieso Moral nur ein Problem des Kapitalismus sein soll und nicht eine globale gesellschaftliche Herausforderung, darauf gibt es keine Antwort. Und überhaupt: ist Moral das Problem der offenen Gesellschaft? Karl Popper schrieb in seinem Klassiker Die offene Gesellschaft und ihre Feinde: "Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition."

Tatsächlich verhandelt Die rote Mühle eher unfreiwillig das politisch-gesellschaftliche Phänomen des letzten Jahrzehnts, das auch zu Verwerfungen während der vorletzten Intendanz am Badischen Staatstheater führte: Die Rückkehr von Paternalismus und Obrigkeitsdenken, der Glaube, daß man von oben mit Moral und Richtlinien Probleme kleinhalten kann, indem man sie ignoriert, tabuisiert oder schlicht als unakzeptabel nicht verhandeln will. 

Was ist zu beachten (2)?
oder
Die Rückkehr des Paternalismus
Wenn man das Symptom der aktuell erfolgreichen populistischen Parteien betrachten will, kommt man nicht darum herum, deren Ursachen zu benennen und damit das politische Versagen der Regierungsparteien über ein Jahrzehnt zu analysieren. Von der scheinbar "alternativlosen" Politik, über "politische Korrektheit", Klientelpolitik, Gender-Gedöns und Cancel Culture bis zur politischen Regulierungswut inkl. aufgeblähter Überwachungsbürokratie: die Bundesrepublik ist autoritärer und inkompetenter geworden. Die totale gesellschaftliche Transformation hat sich als totalitär entpuppt (man denke nur an Fridays for Future und ihre krankheitsbedingt wahrnehmungsgestörte antisemitische Gründerin). Der Soziologe Armin Nassehi hat im Sommer diesen Jahres ein Buch veröffentlich mit dem Titel: Kritik der großen Geste: Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken. Masse ist träge, die Gesellschaft kann nicht nach Wunsch geformt werden. Statt großer Gesten und ultimativer Forderungen soll die Logik vieler kleiner Schritte Einzug halten. Man kann nicht gegen, sondern nur in der Gesellschaft transformieren. Im Alltag konnten das kritische Bürger seit geraumer Zeit, bspw. durch die Zunahme sogenannter Nudges, bemerken. Unter Nudges bzw. Nudging versteht man ursprünglich ein Konzept aus der Verhaltensökonomie, das darauf abzielt, Menschen durch subtile Anstöße oder Veränderungen ihrer Umgebung dazu zu bewegen, bestimmte Entscheidungen zu treffen, also Veränderungen ohne Vorschriften. Schon immer gab es gesellschaftliche Verhaltenssteuerung, die gewünschte Ergebnisse unterstützen sollte. Mit zunehmender wissenschaftlicher Analyse haben sich Nudges aber auch als Mittel zur Manipulation entwickelt, deren Entscheidungsarchitektur so gestaltet wird, daß die Wahrscheinlichkeit steigt, daß Personen die von anderen gewünschten Entscheidungen treffen bzw. das gewünschte Verhalten zeigen. Insbesondere durch Kombination mit Konformitätsdruck erfolgt eine Manipulation, die von aufmerksamen Zeitgenossen auch als Propaganda wahrgenommen werden kann.  Schlagworte wie Vielfalt und Diversität; Gesundheit, Kapitalismus, Energie und Klima werden oft in diesem Sinne eingesetzt. Durch Voreinstellungen (Widerspruchsregelungen, die Aufwand benötigen und dadurch zu Zustimmung führen), Verfügbarkeit und Positionierung von Informationen will man Verhalten beeinflussen: ob im Supermarkt, in Nachrichtensendungen oder durch gesellschaftlich-politischen Aussagen. Das Menschenbild dahinter ist oft reaktionär: Mehr Staat, mehr Kontrolle, weniger Individualismus. Der Mensch sei nicht in der Lage, für sich selber die richtigen Entscheidung zu treffen, eine neue Obrigkeit will das für ihn übernehmen. Doch solche Kollektivkonstruktionen schaden der gesellschaftlichen Mentalität, rufen offen Protest hervor und führen zu Verwerfungen. Den politischen Fehler könnte man im Marx'schen Sinne der Feuerbach-Thesen wie folgt benennen: Die Ideologen und Aktivisten wollen die Welt nur verschieden verändern, doch erst mal kommt es darauf an, sie zu verstehen.

Was ist zu sehen?
Es beginnt spannend und amüsant, mit komödiantisch-pointierten Dialogen; Die erste halbe Stunde ist kurzweilig erzählt, danach flacht es jäh ab und endet plump. Im Zentrum einer runden Bühne steht das kleine Haus von Noël Mori, der mit Jannek Petri ideal besetzt ist! Bravo, starke Leistung! Die Privatheit der Wohnung bleibt gewahrt, was darin passiert wird gefilmt und fürs Publikum auf die Hauswand projiziert. Noëls Freund, vom stets überzeugenden André Wagner gespielt, wechselt als erstes zur Sekten-Firma. Man sieht tatsächlich Teufel, angedeutet durch Hörner auf der Stirn, Swana Rode ist eine der Hauptintrigantinnen, sie darf singen und tanzen, doch ihre Figur ist nur noch Klischee ohne jegliche Ambivalenz. Wie überhaupt nichts Erwähnenswertes passiert. Es gibt ein wenig Spektakel, einen großen, rüschigen, roten Vorhang, eine Chor und Tänzerinnen, der Oberteufel scheint das Fellkostüm aus Toni Erdmann zu tragen, aber drei Stunden nach der Vorstellung fällt dem Autor dieser Zeilen nun schon nichts mehr ein, was irgendwie bemerkensswert ist, außer, daß auch die anderen Bühnenkünstler, besonders Claudia Hübschmann und Jannik Süselbeck starke Momente haben.

Fazit: Die rote Mühle ist die Neuschreibung eines alten Stückes, das vor einhundert Jahren erfolglos blieb und vergessen wurde. Es ist auch damit zu rechnen, daß Stockmanns Mühle sang- und klanglos verschwinden wird. 

PS: Es gibt nach ca. einer Stunde eine Pause. Wem es bis dahin nicht gefallen hat, kann problemlos gehen. Nach der Pause baut die Inszenierung deutlich ab.

Besetzung und Team:
Noël Mori: Jannek Petri
Bismarck, ein Freund von Noël / Mahoney, CEO: André Wagner
Rebekka, Noëls Schwester: Claudia Hübschmann
Bürgermeisterin / Bettina 2.0. / Laborkraft: Ute Baggeröhr
X, Member of the Board: Jannik Süselbeck
Yella, Research and Development: Swana Rode
Diva muffin / Polizist: Nico Herzig

Regie: Tom Kühnel
Bühne: Valentin Köhler
Kostüme: Ulrike Gutbrod
Musik: PC Nackt