So unerbittlich prasselte der Regen gestern Abend in Karlsruhe, daß man sein Echo über die Lüftungsanlage des Großen Hauses in stillen Konzertmomenten wahrnehmen konnte. Doch das hiesige Konzertpublikum ist bekanntlich treu, überraschend wenige verkaufte Plätze blieben zum verregneten Start der Konzertsaison leer. In einer visuell überfrachteten Welt verlieren viele die Fähigkeit zum Zuhören und zur Konzentration auf die eigene Wahrnehmung. Die Konzerte der Badischen Staatskapelle sind zur inneren Fokussierung das richtige Gegenmittel, eine Klangoase, die man nicht so einfach wieder aufgibt, auch wenn das gestrige Symphoniekonzert nicht wirklich Begeisterung auslöste.
Zum Einstieg ließ man den kürzlich verstorbenen Wolfgang Rihm mit einem kurzen Ausklang Abschied nehmen. Das knapp zehnminütige Sostenuto für Orchester ist ein spätes Werk aus dem Jahr 2019, das letzte von Rihm vollendete Werk für großes Orchester. Kein Schwanengesang, aber ein düsteres Zwielicht mit Zusammenballungen und harten Schlägen. Wer um Rihms jahrelangen Kampf gegen den Krebs weiß, der mag hier eine musikalische Aussage zum Zustand des Komponisten vermuten, alle anderen hören schlicht ein kurzes, atmosphärisch dichtes Stück, das als filmische Hintergrundmusik eingesetzt werden könnte. Als kurzfristiger Ersatz für die ursprünglich angekündigte Euryanthe-Ouvertüre taugte es ebenso wenig wie als Reminiszenz an den großen Karlsruher Komponisten. Wenn schon Rihm, dann sollte man sich die Mühe geben, die kanonischen Werke zu identifizieren und beim Publikum durchzusetzen, sonst geht es Rihm wie vielen anderen Komponisten: sie verschwinden nachhaltig vom Spielplan.Es gibt so viel mehr spannende Klavierkonzerte als der heutige Konzertbetrieb zu bieten vermag. Ab den 1990er wurden viele Raritäten eingespielt und aufgenommen, bspw. vom britischen Klassiklabel Hyperion in der Serie "The Romantic Piano Concerto". Und was ließen sich dabei für Namen und Werke entdecken, bspw. Klavierkonzerte von Friedrich Kalkbrenner (1785-1849), Ignaz Moscheles (1794-1870), Adolph von Henselt (1814-1889), Friedrich Kiel (1821-1885), Ignaz Brüll (1846-1907), Robert Fuchs (1847-1927), Franz Xaver Scharwenka (1850-1924), Eugen d'Albert (1864-1932), Alexander Goedicke (1877-1957), Joseph Marx (1882-1964) und sogar Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) und viele, viele andere mehr. Wer sich gerne darauf einlassen will, der wurde gestern auch in Karlsruhe belohnt: man spielte das Klavierkonzert von Adolf Busch (*1891 †1952). Der Name Busch steht für eine große deutsche Künstler- und Musiker-Familie, die vor den Nationalsozialisten ins Ausland flüchtete. Dirigent Fritz Busch war bspw. mit Richard Strauss befreundet, auf CD findet man heute noch seine Einspielungen von Mozart-Opern aus den 1930ern, die er für das Glyndebourne Festival aufnahm; Adolf Busch war Komponist und Geiger. Der berühmte Pianist Rudolf Serkin (1903–1991) war regelmäßiger Klavierpartner Buschs und seit 1935 sein Schwiegersohn. Das Brüder Busch Archiv wird vom Karlsruher Max-Reger-Institut verwaltet und ausgewertet, das sich auch um die Veröffentlichung von Kompositionen Adolf Buschs kümmert.
Ein Grund, wieso so viele Klavierkonzerte vergessen sind, liegt daran, daß es sich für Solisten nicht lohnt, sie einzustudieren. Deswegen muß man sich bei Pianistin Annika Treutler dafür bedanken, ein Werk einstudiert zu haben, daß sie vielleicht nie wieder aufführen wird. Der zärtliche zweite Satz und das wechselvolle Allegro moderato e giocoso zum Schluß spielte sie mit hoher Souveränität. Als Zugabe folgte eines der Intermezzi op.118 von Johannes Brahms, das Lust auf mehr (Brahms und Treutler) machte.
Nach der Pause einer der Hauptklassiker des Konzertbetriebs: die 5. Symphonie c-Moll op. 67 von Ludwig van Beethoven, über deren ersten vier Töne man bereits philosophische Betrachtungen schreiben kann. Der große Bruno Walter dirigierte den vierten Ton ungewöhnlich lang: Ta-Ta-Ta-Taaaaaaaaaaaaaaa bei hohem Tempo (hier bei youtube), auch Furtwängler (hier bei youtube) und Toscanini (hier bei youtube) halten den Ton lang, der fast 85jährige Klemperer nahm es gravitätischer und langsamer (hier bei youtube). Georg Fritzsch (kurz und etwas hastig Ta-Ta-Ta-Taaaa, das erbittliche Schicksal klopft, will aber nicht eintreten) dirigierte etwas langsamer als Walter und Toscanini, etwas weniger leidenschaftlich, von Unerbittlichkeit war im ersten Satz nicht viel zu hören. Der zweite Satz gelang besser, die Badische Staatskapelle zelebrierte die Melodien. Im dritten Satz wiederum schwächelten die Kontraste, das Emporringen aus den Baßtiefen, das Lastende, das Vorantasten und die Steigerung kann man stärker betonen. Auch der Schlußsatz kann pompöser und strahlender jubilieren - keine Fünfte, an die sich der Autor dieses Blogs lange erinnern mag.