Montag, 13. Oktober 2025

Miller - Prima Facie, 12.10.2025

In den Niederungen des kommerziellen Pseudo-Attitüden-Theaters
Wer gerne schlecht konstruierte, schwach motivierte und klischeebeladene englische Justizdramen mag, dem könnte Prima facie eventuell gefallen. Für mitdenkende Zuschauer hingegen ergeben sich einige Kritikpunkte.

Worum geht es?
In Prima Facie erzählt die englische Strafverteidigerin Tessa Ensler den Zuschauern monologisch ihre Geschichte. Sie hat sich aus einfachen Verhältnissen zur Anwältin in einer Kanzlei hochgearbeitet und verteidigt erfolgreich Angeklagte, bspw. auch gegen den Vorwurf sexueller Übergriffe. Alles ändert sich, als Tessa behauptet, selbst stark alkoholisiert Opfer eines sexuellen Übergriffs durch ihren Liebhaber geworden zu sein. Doch obwohl sie selber erfahrene Anwältin ist, macht sie seltsamerweise alles falsch und kann nichts beweisen, keine DNA, keine Gewaltspuren, noch nicht mal Indizien, kein Etwas, auf das eine Schuld gestützt werden kann. Sie erlebt nun das Rechtssystem aus der Perspektive einer beweislosen Klägerin und muß wenig überraschend feststellen, daß ohne Beweise kein Prozeß zu gewinnen ist, und das auch noch geschlechtsunabhängig. Dabei geht es sehr länderspezifisch zu: die englischen Strukturen für Opfer von sexueller Gewalt werden als problematisch kritisiert, bspw. der Einsatz einer Jury, wie er im englischsprachigen Verfahren üblich ist, um die Urteilsfindung im Sinne der Schwarmintelligenz auf mehrere Schultern zu verteilen. Das Stück thematisiert die Herausforderungen, denen man sich in englischen Gerichtsverfahren stellen muß, insbesondere wenn Aussage gegen Aussage steht. Es kommt, wie es in einem funktionierenden Rechtsstaat kommen muß: der Angeklagte wird freigesprochen. Die Geschichte hat keine Pointe oder überraschende Wendung, nur ein billiges Ende, wenn der Monolog in den kampagnenmäßigen, attitüdenhaften Aufruf  mündet, daß sich etwas ändern muß. Was, das läßt die Autorin zur Spekulation offen: Mehr Law & Order, härtere Strafen und die Erleichterung des Waffenbesitzes für unbescholtene Bürger bieten sich an, oder ein faschistoides Rechtssystem, bei dem Angeklagte ihre Unschuld beweisen müssen.

Was ist zu beachten (1)?
oder
Die populistische Verführung zur Leichtgläubigkeit und Vorverurteilung
Aller Inhalt ist Form und bei Prima Facie ist es die des monologischen Zwielichts, die das Publikum dazu auffordert, die fehlende Gegenstimme zu sein. Theatermonologe geben der Figur die Möglichkeit zur Selbstentlarvung oder Selbstverschleierung. In Zeiten von sozialen Medien ist der mediale Monolog das Mittel zur vorsätzlichen Täuschung des Publikums, denn überraschend viele wollen glauben, was man ihnen vorsetzt. Aufmerksamkeit erzielt man bspw. durch vermeintliche Opfergeschichten und Betroffenheitslamentos. Der politische Populismus von links und rechts nutzt dies für immer neue Empörungs- und Verschwörungsspiralen und Angriffe auf den Rechtsstaat, indem man Opfer definiert und mit dem Zeigefinger auf die vermeintlichen Täter deutet und der Politik Untätigkeit, Vorsatz und niedere Beweggründe vorwirft. Desto pauschaler die Vorwürfe, umso dümmer die Zielgruppe.
Monologische Theaterstücke sind also ein getrübtes Fenster in die Seele. Sie können dem Subjekt u.a. dazu dienen, die Deutungshoheit über das eigene Leben zu erlangen, andere Stimmen sind nicht zugelassen. Prima Facie ist als Monolog konzipiert und das wirft unmittelbar die Frage auf, wieso die Autorin keine Gegenstimme zuläßt. Vor acht Jahren gab es in Karlsruhe Lot Vekemans' Monolog Judas, bei dem sich Judas Ischariot in einem überlegten und einstudierten Auftritt selber ins von ihm gewünschte Licht setzte und eine Täter-Opfer-Umkehr versuchte.
Prima facie - dem ersten Anschein nach - erzählt Suzie Miller in ihrem gleichnamigen monologischen Theaterstück die Geschichte eines mutmaßlichen Opfers und kritisiert dabei das englischsprachige Rechtssystem (das sich übrigens grundlegend vom deutschen juristischen Ansatz und der Rechtskultur unterscheidet). Auf den ersten Blick scheint man Zeuge einer rührseligen Opfergeschichte zu werden, die um Anteil- und Parteinahme nach einem Justizirrtum buhlt. Doch Titel und Form geben den Hinweis auf den trügerischen Zusammenhang: Der Schein kann täuschen. Im Rechtsstaat gilt der Grundsatz in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten. Auch im englischen Strafrecht gilt, daß die Schuld beyond reasonable doubt - jenseits vernünftigen Zweifels - zu beweisen ist. 
Prima facie ist von Suzie Miller aus guten Grund als Monolog konzipiert, bei der die Erzählerin nur ihre Version der Ereignisse schildert und keine anderen Perspektiven zugelassen sind. Durch die Anklage ohne Verteidigung wird die populistische Verführbarkeit des Publikums getestet, dem vermeintlichen Opfer glauben zu wollen und fundamentale juristische Errungenschaften in Frage zu stellen. 
Nirgendwo sollen falsche Verdächtigungen so häufig anzutreffen sein, wie im Sexualstrafrecht, konstatieren Juristen. Aus gerichtsmedizinischer Sicht sollen 30 bis 40% der Fälle vorgetäuscht sein, aus juristischer Sicht scheinen ebenfalls mindestens ein Drittel aller Vorwürfe falsch zu sein.
Es gibt nicht nur Phädras, die sich mit falschen Anschuldigungen rächen wollen. Auch zur Vorteilsbeschaffung dienen inzwischen falsche Vorwürfe, sogar im politischen Alltag. Vor der Bundestagswahl mußte der Berliner Grünen-Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar wegen falschen #MeToo-Vorwürfen aus seiner eigenen Partei auf seine Kandidatur zur Wiederwahl verzichten. Die Partei beauftragte einen internen Untersuchungsausschuß, der zu einem klaren und für die Partei recht peinlichen Befund kam: Den Frauen, die die Falschmeldung organisierten ging es um die Instrumentalisierung eines solchen Verfahrens für parteipolitische Zwecke. Beispielhaft wurde dabei vorgeführt, wie die Unschuldsvermutung zulasten willkürlicher Vorverurteilung sabotiert wurde.

Was ist zu beachten (2)?
oder
Pseudo-Attitüden-Theater als kommerzielle Strategie

Kommerzielle Ziele werden ja gerne hinter der Alibi-Behauptung versteckt, etwas Relevantes und Wichtiges zu sagen zu haben. Man denke nur an Ferdinand von Schirachs vielgespieltes Gerichtsdrama Terror, das juristisch mehr als fragwürdig ist und das Publikum auch noch in gewisser Weise voyeuristisch über die gefühlte Un-/Schuld des Angeklagten abstimmen ließ. Die Justiz spricht Recht, im besten Fall dient sie damit der Gerechtigkeit. Doch Gerechtigkeitsvorstellungen sind in einem Maße abhängig von Kontext und Perspektive, daß meistens nur Narren, Heuchler und Fanatiker ernsthaft eine vermeintliche Gerechtigkeit fordern, denn gerecht ist dann immer, was die eigene Perspektive stützt und die andere bestraft.
Suzie Millers Prima Facie will auch auf den kommerziellen Zug aufspringen, doch sie hat wenig Ideen und nichts zu sagen. Das scheint dennoch für das wenig qualitätsbewußte Karlsruher Schauspiel zu reichen. Die schlichte Geste der Attitüde mag dort die schlechte Dramaturgie kompensieren.
Ferdinand von Schirach hat übrigens in seinem Theaterstück Sie sagt. Er sagt. das Dilemma der Wahrheitsfindung bei mutmaßlichen Sexualdelikten ebenfalls dramatisiert. Auch in dieser Konstellation gibt es keine Zeugen und keine eindeutigen Beweise – lediglich die widersprüchlichen Aussagen der beiden Beteiligten. In beiden Fällen handelt es sich um ein Dilemma ohne Erkenntniswert: Aussage gegen Aussage und keine Beweise. Dennoch scheint es, als ob Schirachs Stück die bessere Wahl gewesen wäre

Was ist zu beachten (3)?
oder
Der Bullshit der Kampagnendramaturgie
Die Welt scheint wieder in eine Phase der hegemonialen Gewalt eingetreten zu sein. Die Verrohung entsteht im  Zusammenspiel verschiedener sozialer, psychologischer und biologischer Faktoren. Mehr Männer als Frauen erleben Gewalt, eine Tatsache die Prima Facie unterschlägt. Betrachtet man die Statistiken für 2024 ergibt sich, daß ca. 70% aller Opfer von Gewalttaten in der Bundesrepublik Männer und ca. 30% Frauen sind. Die Dunkelziffer ist bei beiden Geschlechtern hoch. Im sozialen Nahraum sind Frauen häufiger betroffen, der öffentliche Raum ist hingegen für Männer gefährlicher.  Ca. 55% aller Tötungsdelikte trifft Männer, ca. 45% Frauen. Betrachtet man die Straftäter, dann fällt auf, daß überproportional viele -über 40%- keine deutschen Staatsbürger sind. Auch im Programmheft des Karlsruher Schauspiels finden sich diverse Statistiken und Zahlen, die aber nicht im Kontext vollständig und korrekt dargestellt werden. Es geht nur um die Opferrolle von Frauen, die männliche Perspektive interessiert nicht. Es wirkt schon seit geraumer Zeit lächerlich, wie weibliche Opferperspektiven  aufgebauscht werden, während migrantische Gewalt und Gewalterfahrung männlicher Opfer marginalisiert bzw. tabuisiert werden. Das Vorgehen des Karlsruher Schauspiel erinnert dabei stark an die bereits 1986 veröffentlichte Abhandlung On Bullshit des amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt. Bullshit ist von Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Frankfurt beschreibt Bullshit als eine Form unaufrichtigen Behauptens. Das Bullshitten besteht im gezielten Herstellen eines bestimmten Eindrucks, wobei die Sorge um die Wahrheit keine Rolle spielt. Frauen erleben seltener Gewalt als Männer, dennoch spielt das für das aufbauschende Bullshit-Kampagnentheater keine Rolle.

Was ist zu beachten (4)?
oder
Das langsame Ende des Klienteltheaters
Der Opferkult -ob in den sozialen Medien oder der Theaterdramaturgie- dient dazu, moralische Autorität, Aufmerksamkeit und Sympathie zu gewinnen. In digitalen Zeiten, in denen Sichtbarkeit und Emotion zentrale Währungen sind, wird die Opferrolle zu einem strategischen Kommunikationsinstrument. Das Theaterstück folgt der Logik der sozialen Medien: es geht um emotionale Inhalte, die Empörung, Mitleid oder moralische Zustimmung erzeugen. Beiträge, die Unrecht oder Leid inszenieren, werden häufiger geteilt und kommentiert und steigern Reichweite und Interaktion. So entsteht ein Anreiz, persönliche oder kollektive Opfererfahrungen zu betonen, manchmal bis hin zur Übertreibung oder Instrumentalisierung. Psychologisch spielt der Wunsch nach Anerkennung eine entscheidende Rolle. In einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft, in der traditionelle Zugehörigkeiten schwinden, bietet die Selbstinszenierung als Opfer eine neue Form sozialer Identität. Wer Opfer ist, kann moralische Ansprüche stellen – auf Rücksicht, Solidarität oder politische Veränderung. Dieses Muster durchzieht politische Diskurse ebenso wie private Selbstdarstellungen. Der Opferkult spiegelt aber auch tiefere gesellschaftliche Spannungen wider. In Zeiten steigender Unsicherheit wird nach Sicherheit und Schuldigen gesucht. Populistische Bewegungen von rechts und links haben diese Dynamik erkannt: Sie definieren kollektive Opfergruppen und lenken deren Frustration gegen vermeintliche Täter – Eliten, Medien, Minderheiten,  Männer! So verwandelt sich das Opfer-Narrativ in ein Werkzeug der Machtausübung und Manipulation. Der Opferkult ist kein Randphänomen, sondern Ausdruck einer Kultur, in der sich moralische Empörung und, emotionale Selbstdarstellung über ein Publikum verstärken. Das mag auf die Zerbrechlichkeit öffentlicher Debattenräume und auf das Bedürfnis vieler verweisen, in einer unübersichtlichen Welt Bedeutung und Gehör zu finden. Entscheidend wäre daher, Anerkennung nicht an Leid, sondern an Aufrichtigkeit und Verantwortungsbewusstsein zu knüpfen. Dies hat das Karlsruher Schauspiel mit seinem ideologischen Klienteltheater seit Jahren verpasst.

Was ist zu sehen?
Eine kahle Bühne mit beweglicher Treppe, atmosphärisch ist die Lichtregie gefragt. Die Handlung wird linear inszeniert, obwohl ein Monolog rückblickend erzählt wird. Die Opferbehauptung spielt lange überhaupt keine Rolle. Schauspielerin Rebecca Seidel spielt Tessa zu Beginn als etwas unseriös wirkende Jungjuristin, die ihren Beruf als Show und Wettbewerb leichtfertig und spaßhaft darstellt und emotional wie ein unreifer Teenager wirkt. Dann konterkariert sie ihr berufliches Selbstbewußtsein durch den niedrigen sozialen Status ihrer Familie und ihre angebliche Unsicherheit, um sich dann wieder komplett assimiliert als Juristin zu präsentieren, die stark alkoholisiert einen Absturz erlebt, der sie aus der Bahn wirft. Das emotionale und intellektuelle Auf-und-ab der Anwältin und ihrer Zwei-Klassen-Welt wirkt stark klischeebelastet und wie aus bekannten Vorlagen kopiert. Der ständige Wechsel zwischen Rationalität und Emotionalität stellt zudem die Glaubwürdigkeit immer wieder infrage. Tatsächlich wäre dieses Theaterstück dann auf der Höhe der Zeit, wenn die Inszenierung ambivalenter gewesen wäre, die Verunsicherung des angeblichen Opfers stärker betont oder Tessa am Ende als Lügnerin entlarvt hätte. So undurchdacht die Inszenierung wirkt, so schwer tut sich Seidel damit, ihre Figur eine überzeugende Entwicklung durchleben zu lassen. 

Fazit: In jeglicher Hinsicht unterkomplex und dem Thema nicht gerecht werdend. Wer sein Hirn beim Theaterbesuch nicht gerne nutzen mag, der kann sich eventuell sogar ganz passabel unterhalten lassen.

Besetzung und Team
Tessa: Rebecca Seidel
Regie: Franziska Stuhr
Bühne & Kostüme: Anna Brandstätter
Licht: Christoph Pöschko