Spätbarocke Ballett-Oper im Dienste anti-absolutistischer Aufklärung
Vieles ist bemerkenswert an Rameaus letzter Oper Les Boréades. Zuerst, daß man nun in Karlsruhe endlich erstmals französischen Barock präsentiert bekommt, der sich von dem bei den jährlichen Händel-Festspielen musizierten italienischen Stil u.a. darin unterscheidet, daß er sich am höfischen Geschmack von Versailles orientierte, einen Hang zu Prunk und festlichen Tableaus übernahm und die fünfaktig strukturierte Oper als frühes Gesamtkunstwerk auch oft viele Tanzeinlagen, Chöre und Divertissements hatte. Auf lange Da-capo-Arien wurde zudem zugunsten kürzerer Arien verzichtet und Kastraten kamen kaum zum Einsatz. Wie fremd diese Stilrichtung in Deutschlands Opernhäusern geblieben ist, kann man bspw. daran erkennen, daß der Karlsruher Operndirektor Christoph von Bernuth an seiner früheren Wirkungsstädte die deutsche Erstaufführung der Boreaden über 250 Jahre nach der Entstehung inszenierte, die nun als Übernahme auch am Staatstheater vom Publikum bewundert werden kann. Vieles war bemerkenswert an der sehr gelungen gestrigen Premiere, insbesondere die bravourös auftrumpfenden Sängerinnen Anastasiya Taratorkina und Martha Eason, der von Dirigent Attilio Cremonesi mit der Badischen Staatskapelle in historisch informierter Aufführungspraxis zelebrierte Barockklang, Solisten, Chor und Tänzer. Der Mut zur Rarität wurde gestern mit viel Jubel belohnt.
Die Oper spielt in einem antik-mythischen Baktrien, einem Königreich nördlich des Hindukuschs, und dreht sich um die Königin Alphise, die sich gegen göttliches Gesetz stellt. Nach althergebrachter Sitte muß sie einen Nachkommen des Gottes Boreas, also einen der Boreaden, heiraten. Doch Alphise lehnt trotz aller Warnungen die beiden Kandidaten -den polternden Borilée und dessen Bruder Calisis- ab, denn sie hat sich in den Fremden Abaris verliebt, dessen Herkunft unbekannt ist. Nur der Hohepriester Adamas weiß, daß Abaris Apollos Sohn ist. Amor prophezeit, daß nur ein Boreade die Krone erhalten kann. Alphise dankt ab und verzichtet auf ihr Königreich, um Abaris heiraten zu können. Die empörten Boreaden Calisis und Borileas rufen ihren Vater Boreas zur Rache auf, der Alphise während eines gewaltigen Unwetters entführt. Abaris ist verzweifelt und wird von Adamas ermutigt, Boreas' Königreich zu erobern, wo Alphise zur Heirat mit einem Boreaden gezwungen werden soll. Abaris erscheint, doch bevor der Kampf eskaliert steigt Apollon vom Olymp herab und offenbart, daß Abaris sein Sohn und seine Mutter eine Nymphe aus Boreas' Geschlecht und er damit ein Boreade ist. Die Liebenden werden vereint und besingen den Sieg der Liebe.
Historisches
Jean-Philippe Rameau (*1683 †1764) lebte in Zeitgenossenschaft zu Händel (*1685 †1759) und wurde erst im fortgeschrittenen Alter von 50 Jahren zum Opernkomponisten. Er hat insgesamt über 30 Bühnenwerke komponiert, die verschiedene Formen von Opern des französischen Barock umfassen, darunter Tragédies lyriques, Opern-Ballette, Pastoralen und komische Opern. Zu seinen bekanntesten Werken gehören seine erste Oper Hippolyte et Aricie (1733), Les Indes galantes (1735) und Castor et Pollux (1737). Später folgten u.a. Platée (1745) und Zoroastre (1749). Rameaus letzte Oper Les Boréades (komponiert 1763) wurde zu seinen Lebzeiten nicht mehr aufgeführt, über die Gründe kann nur spekuliert werden. Die Handlung bzw. die Musik mag dem Operndirektor nicht gefallen haben, Rameaus Stil mag sich überlebt haben, aufgrund der instabilen politischen Lage - nach dem siebenjährigen Krieg von 1756 bis 1763 war Frankreich geschwächt und verschuldet - war die Oper mit Chor und Tänzern möglicherweise einfach zu teuer und komplex für eine einfache Aufführung. Manche vermuten, daß die Handlung – eine Geschichte um Freiheitsstreben und den Widerstand gegen Zwänge – als potenziell subversiv angesehen wurde. Rameau starb in einem Jahr und einem Jahrzehnt, das kaum operngeschichtliche Nachwirkungen hatte und ganz im Übergang vom Barock zur Frühklassik stand. Glucks erste Reformopern, die das Ziel verfolgten, die Musik in den Dienst des Dramas zu stellen, begannen zu wirken, insbesondere Orfeo ed Euridice (1762) und Alceste (1767), die Iphigenien folgten in den 1770ern. Haydn (*1732 †1809) und Mozart (*1756 †1791) komponierten ihre Bühnenwerke ebenfalls ab den 1770ern.
Ab den 1950er begann Rameaus Wiederentdeckung. Platée wurde in Aix-en-Provence unter der Leitung von Hans Rosbaud aufgeführt. Der zu Beginn der Händel Festspiele auch in Karlsruhe dirigierende Barockexperte Jean-Claude Malgoire und das Ensemble La Grande Écurie et la Chambre du Roy leisteten knapp 20 Jahre später Pionierarbeit, William Christie mit seinem Ensemble Les Arts Florissants folgte. Die nie aufgeführten Boréades wurde dann von John Elliot Gardiner 1975 erstmals konzertant und 1982 szenisch beim Festival in Aix-en-Provence aufgeführt. Gardiner dirigierte 1982 auch die erste Studio-Aufnahme.
In Karlsruhe ist das Publikum im fünften Jahrzehnt der Händel-Festspiele längst Experte für italienisch gesungene Barockopern. Die französische Barocktradition hingegen, insbesondere Jean-Baptiste Lully (*1632 †1687), Marc-Antoine Charpentier (*1643 †1704), André Campra (*1660 †1744) und Jean-Philippe Rameau, wurde hier bisher noch nie auf der Bühne gezeigt. Die große Verbundenheit Karlsruhes zur französischen Oper setzte erst nachbarock bei der Gründung der Karlsruher Hofoper 1808 ein.
Was ist zu sehen?
Eine Oper wie ein Märchen: die schöne Prinzessin liebt den unbekannten Helden und muß sich der Bosheit erwehren. Eine Entscheidung steht an: A oder B? Alphise, Abaris und der Apollopriester Adamas stehen gegen die althergebrachten Ansprüche der skrupellosen Boreaden und ihres Herrschers Borée. Letztere stehen für Tyrannei und Willkür, Verfolgung, Folter und Mord, doch Liebe und Versöhnung gewinnen. Eine Oper als Allegorie des Sieges des Lichts gegen die Dunkelheit. Nur wo ist der Gott, der dies diesseits bzw. jenseits der Utopie bewerkstelligt? Darauf findet auch die Regie in Karlsruhe keine Antwort. 25 Jahre vor der französischen Revolution finden sich im Libretto bemerkenswerte Sätze wie: C'est la liberté qu'il faut que l'on aime, le bien suprême, c'est la liberté (Es ist die Freiheit, die man lieben muß, das höchste Gut, es ist die Freiheit). Operndirektor Christoph von Bernuth inszeniert diese Allegorie ganz aus der Sicht des Kampfes gegen die Tyrannei. Die Boreaden sind das alte anmaßende Herrschergeschlecht, das besiegt werden muß, damit es eine Zukunft gibt. Vous voulez être craints, pouvez-vous être aimés? fragt Abaris die Boreaden (Ihr wollt gefürchtet werden, aber könnt ihr auch geliebt werden?). Die Inszenierung zeigt auch die Reaktion bzw. das Reaktionäre nach der Wende.
Rameau nimmt sich Zeit, in den ersten beiden Akten wird über eine Stunde lang der Konflikt vorbereitet, erst nach der Pause im dritten Akt erfolgt die szenisch turbulente Ablehnung der Boreaden durch Alphise, die nach ihrer Entführung dann im vierten Akt wie eine Dissidentin verehrt wird und den Widerstand inspiriert. Hier gelingt es Bernuth großartig, die Handlung in die Aktualität zu holen und sie mit modernen Symbolen zu versehen. Schwachstelle ist der fünfte Akt, der den Spagat zwischen Utopie und Realität überdehnt und Längen aufweist.
Der Regisseur handhabt den Beginn der Oper mit leichter Hand: eine leere Bühne, Projektionen und Lichtregie, später ein etwas altbacken projizierter Wortsalat, das vermeintlich Göttliche kommt außerplanetarisch als Mond, der ebenso als Tricktechnik entlarvt wird wie Borée als simpler alter Tricktechniker. Die Mischung aus Allegorie und Aufklärung ergibt ein eklektisches Gesamtbild: von vielem ein wenig, im Einzelnen spannend, manches etwas plakativ, als Gesamtbild etwas inhomogen.
Rameaus Oper hat viele Handlungsunterbrechungen für orchestrale Intermezzos, Divertissements und Tänze (z.B. Gavotten, Menuette), die von Tänzern des Badische Staatsballetts getanzt werden. Dem in Paris geborenen Choreograph Antoine Jully gelingt es allerdings nicht, mit seiner Tanzsprache durchgängig zu überzeugen. Die Szenen wirken manchmal etwas beliebig, die Zeit füllend, aber nicht die Ideen überzeugend erfüllend, weder barocke Formen aufnehmend noch die Handlung hinreichend unterstützend. Es fehlt der französische Esprit und der rote Faden!
Les Boréades entfaltet aus dem Orchestergraben eine packende musikalische Dramaturgie sowie ein durchdachtes, farbiges Klangbild, bei dem insbesondere die individuelle Orchestrierung begeistert, die Badische Staatskapelle spielt ihre individuellen Stärken aus: die (zu Beginn noch etwas verwackelt wirkenden) Naturhörner kündigen bereits in der durch Ballett versinnbildlichten Ouvertüre jagdähnliche Episoden an und sorgen für dramatische Konturen. Pauken, Trommel sowie Spezialinstrumente wie Donnerblech oder Windmaschine grollen dunkel und untermalen die peitschenden Winde und spektakuläre Gewitterszene, es gibt den weichen Klang der Fagotte und Oboen; Flöten und Piccoloflöten setzen bewegte Farbtupfer. Das vom Dirigenten gespielte Cembalo und das Continuo-Cello von Antje Nürnberger rhythmisieren das Geschehen beredt. Attilio Cremonesi erweist sich dabei als idealer Dirigent für das subtile Zusammenspiel von Instrumenten, Sängern und Tänzern sowie für die affektgeladenen Kontraste, die mal diskreter, mal stürmischer, mal elegischer, mal aufbrausender erklingen. Cremonesi hat mit dem Orchester einen barocken Fundamentklang erarbeitet und noch nie hat die Badische Staatskapelle so barock geklungen. BRAVO!
Sängerisch gibt es viel Glanz: Anastasiya Taratorkina trumpft als Alphise mit strahlendem Sopran auf, eine stolze und doch zarte und bezaubernde Königin.
Die Stimmlage des Abaris ist außergewöhnlich hoch angesetzt, im französischen Barockrepertoire wird dafür ein hoch singender Tenor -ein sogenannter Haute-Contre- eingesetzt. In Karlsruhe hat man dafür als Gast Mathias Vidal engagiert, der den Abaris bereits in verschiedenen Produktionen sowie auf der CD Einspielung des Dirigenten Václav Luks mit dem Collegium 1704 sang. Vidal überzeugte mit unermüdlicher Stimme und einer differenzierten Charakterisierung, sein Abaris ist ein poetischer Zweifler.
Die längste Arie befindet sich im ersten Akt: Un horizon serein mit schwierigen Steigerungen und Koloraturen wird von Martha Eason in der Rolle der Sémire bravourös gesungen.
Desweiteren überzeugten Kihun Yoon als derber Borilée, Sébastian Monti als eitler Calisis, die beiden langjährigen Publikumslieblinge Armin Kolarczyk als Adamas und Konstantin Gorny als Borée sowie der von Ulrich Wagner tadellos einstudierte Badische Staatsopernchor. Bemerkenswert gut auch die kleinen Rollen: Paola Leoci als L'Amour und Sara de Franco als Polymnie. Nur ein Sänger hatte keinen guten Tag erwischt: der Apollo von Oğulcan Yılmaz ließ alle Wünsche offen.
Fazit: Der Karlsruher Oper gebührt mehrfach Dank und Gratulation: für den Mut zur Rarität und eine grandiose sängerische und musikalische Aufführung. Bravo!
Besetzung und Team
Alphise: Anastasiya Taratorkina
Abaris: Mathias Vidal a.G.
Sémire: Martha Eason
Calisis: Sébastian Monti a.G.
Adamas: Armin Kolarczyk
Borée: Konstantin Gorny
Borilée: Kihun Yoon
Apollon: Oğulcan Yılmaz
Le Tambour: Michael Metzler
L'Amour: Paola Leoci
Polymnie: Sara de Franco
Tänzer:
Mariaelena Colombo, Baris Comak, Christopher Evans, Anzu Ito, Veronika Jungblut, Niccolò Masini, Ella Matthews, Nicoletta Moshidis, Vitor Oliveira, Daniel Rittoles, Lucia Solari, Ledian Soto
Musikalische Leitung: Attilio Cremonesi
Regie: Christoph von Bernuth
Choreographie: Antoine Jully
Choreographische Einstudierung: Keiko Oishi
Bühne: Oliver Helf
Kostüme: Karine Van Hercke
Video: Sven Stratmann
Chor: Ulrich Wagner
Vielen Dank für alle Nachrichten und Kommentare. Da ich die ganze Woche beruflich unterwegs war und lange Abende auswärts verbrachte, war es mir bisher nicht möglich zu antworten. Da nun noch ein geballtes langes Wochenende ansteht, kann ich nur um Geduld bitten. Soweit bekannt, antworte ich mittels PN im Verlauf der kommenden Tage.
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