Montag, 1. Dezember 2025

La Dolce Vita (Ballett), 30.11.2025

Viel Applaus gab es beim gestrigen zweiteiligen Ballettabend mit Choreographien von Johan Inger und Kristina Paulin insbesondere für die Tänzer.

Kleine Ursachen können große Wirkungen auslösen. Der sogenannte Schmetterlingseffekt aus der Chaostheorie besagt, daß winzige Veränderungen in den Anfangsbedingungen eines Systems langfristig zu erheblichen, oft unvorhersehbaren Folgen führen können. Die Metapher stammt von der Vorstellung, daß der Flügelschlag eines Schmetterlings am einen Ende der Welt einen Tornado am anderen Ende auslösen kann.​ Das ca. 35minütige B.R.I.S.A. des schwedischen Choreographen Johan Inger ist ein Werk über Aufbruch, Veränderung und die wohltuende Energie, die schon ein Luftzug mit sich bringen kann. Inger setzt diesen Gedanken eigenwillig um. Das Ballett ist geprägt von einem buchstäblich düsteren Begin: szenisch durch schwache Beleuchtung und musikalisch durch die kantige und nicht immer schöne Stimme der Jazz-Sängerin Nina Simon, die das tänzerisch zu Beginn Kleinliche und Unfreie stimmlich begrenzt ausdrückt. Alle fünf Musikstücke, Songs von Nina Simone und Originalkompositionen von  Amos Ben-Tal, steigern sich in Geschwindigkeit und Lautstärke und erzeugen damit einen Sog. Inger setzt den Wandel  humorvoll um, indem er die Tänzer buchstäblich von Gerätschaften wie Haartrocknern oder Laubbläsern "wegblasen" läßt. Bereits ein unscheinbarer Impuls kann einen Prozeß in Gang setzen, der die Realität der Beteiligten transformiert - eine in diesem Ballett poetische Vorstellung, daß scheinbar Belangloses das Potenzial zum Auslöser großer Veränderungen hat – ähnlich wie der Schmetterlingseffekt es für komplexe Systeme formuliert. Den Tänzern weist er dabei unterschiedliche Rollen, die zwischen Skepsis und Verschlossenheit und Offenheit für Wandel ganz unterschiedliche (man könnte sagen existentialistische) Entwicklungen durchmachen. Das mag nicht die für jeden optimale Umsetzung dieser Idee sein, Ingers Stil ist sehr artikuliert, mit verdrehten, elastisch wirkenden Körpern plötzlichen Zuspitzungen der Bewegung, die starke physische Präsenz verlangen - und darin lag auch gestern das Besondere. Die acht Tänzer des Staatsballetts setzten das ansteckend  virtuos und hoch engagiert um.

Besetzung und Team:
Tänzer: Marta Andreitsiv, Sophie Burke, Maria Mazzotti, Carolin Steitz; Lasse Caballero, Pablo Polo, Philip Sergeychuk, Filippo Valmorbida

Choreographie, Inszenierung & Bühne: Johan Inger
Musik: Amos Ben-Tal, Nina Simone
Kostüme: Bregje van Balen
Licht: Tom Visser



Nach der Pause dann Fellini, eine knapp 65minütige Uraufführung der Hauschoreographin Kristina Paulin. Wer - außer manchen Älteren - kennt heute noch die Filme des italienischen Regisseurs und Autors Federico Fellini (*1920 †1993)? Er verband Realität und Traum, Poesie, Groteske und Satire zu einer oft märchenhaft-surrealen Filmsprache. Während er zu Beginn seiner Karriere durch den italienischen Neorealismus geprägt war, begann er früh, diese Strömung mit Phantasie und persönlicher Handschrift aufzulösen. Seine Werke leben von symbolhaltigen Bildern, einer kaleidoskopartigen Figurenwelt sowie einer Mischung aus Ironie, Melancholie und Visionärem.​ Paulin erzählt episodisch Szenen aus Fellinis künstlerischem Leben und bezieht sich dabei auf drei Filme: La Strada (1954), La dolce vita (1960) sowie (1963), aus denen auch Ausschnitte zu sehen sind. Wer gar nichts über Fellini weiß, dem könnte das Bühnengeschehen gelegentlich etwas rätselhaft vorkommen.

La Strada erzählt die Geschichte des naiven und von ihrer Mutter verkauften Mädchens Gelsomina (gespielt von Giulietta Masina, die Fellinis Ehefrau wurde), das zur Assistentin und Gefährtin des grobschlächtigen Jahrmarktartisten Zampanò (Anthony Quinn) wird. Gemeinsam ziehen sie durch das verarmte Italien und verdienen ihr Leben mit Vorführungen auf den Straßen. Gelsomina leidet unter Zampanòs harter und gefühlloser Art, bleibt aber dennoch bei ihm, da sie keinen anderen Ausweg sieht. Auf ihrer Reise trifft sie den sensiblen Seiltänzer Matto (Richard Basehart), der ihr Mitgefühl und Aufmerksamkeit schenkt, im Gegensatz zu Zampanò. Die Begegnung zwischen den Dreien eskaliert jedoch tragisch: Zampanò tötet Matto im Streit und verlässt schließlich die psychisch gebrochene Gelsomina. Jahre später erfährt der verarmte Zampanò von ihrem Tod und zeigt erstmals echte Reue.​

La dolce vita dreht sich um den Boulevardjournalisten Marcello Rubini (gespielt von Marcello Mastroianni), der durch das mondäne Nachtleben der römischen High Society streift. Er begleitet Prominente, trifft schöne Frauen und sucht zwischen oberflächlichen Partys, Liebesbeziehungen und künstlerischen Ambitionen nach dem Sinn seines Lebens. Die Episoden des Films zeigen, wie Marcello zunehmend in einen Strudel aus Zerstreuung, Oberflächlichkeit und Orientierungslosigkeit gerät. Die berühmteste Stelle des Films ist eine nächtliche Szene am Trevi-Brunnen in Rom, in der Anita Ekberg (als Filmstar) im Abendkleid in den Brunnen steigt und Marcello Mastroianni ihr folgt. Die ikonischen Bilder von Ekberg und Mastroianni im Wasser prägen bis heute das Image des Brunnens.

 erzählt von dem berühmten Filmregisseur Guido Anselmi (Marcello Mastroianni), der in einer kreativen und persönlichen Krise steckt und an einem neuen Film arbeiten soll, innerlich aber blockiert ist. Der Film gilt als einer der einflussreichsten und meistgelobten Werke des Autorenkinos und wurde bereits bei Erscheinen als Meisterwerk rezipiert, auch wenn die experimentelle Erzählweise manchen Zuschauer überforderte.

Das Ballett enthält elf Szenen, am etwas spröden Beginn steht eine Rückblende des alternden Fellini, der sich für die Zuschauer wenig attraktiv gestaltet. Erste in der vierten Szene verdichtet sich das Ballett, wenn Fellini bei den Dreharbeiten zu La Strada seine spätere Ehefrau Giulietta Masina kennenlernt. Dieses Paar wird dargestellt vom neuen ersten Solisten Christopher Evans (ein klarer Zugewinn für die Kompagnie) in der Titelrolle, der mit der derzeit ausdrucksstärksten Tänzerin Lucia Solari die schönsten Stellen des Balletts tanzt. BRAVO! Auch das zweite Paar reüssiert: Veronika Jungblut hat schon im Ballett Cantata gezeigt, daß sie die Richtige für sinnliche, leidenschaftliche Frauenfiguren ist. Als Anita Ekberg ist sie im Trevi-Brunnen die Partnerin des von Pablo Polo getanzten Marcello Mastroianni in La dolce vita. Paulins Ballett ist episodisch ohne den ganz großen Brückenschlag über die Szenen zu schaffen. Fellini lebt von einzelnen Momenten, das Ballett hat aber auch immer wieder Schwachpunkte, bspw. in etwas zu vielen Clowns-Szenen, einer wenig originellen Party und insbesondere in der größten Ensembleszene bei den Dreharbeiten zu 8½.

Die für das Ballett verwendete Filmmusik von Nino Rota spielte in Werken Federico Fellinis eine zentrale Rolle. Rota war von 1952 bis zu seinem Tod 1979 Fellinis ständiger Komponist und prägte entscheidend die Atmosphäre seiner Filme, bei denen die Musik oft als emotionales und erzählerisches Bindeglied dient. Rota  konterte die oft trostlosen Lebenswelten der Figuren mit melancholischer Schönheit und zarter Ironie und verleiht  Szenen eine poetische, manchmal fast märchenhafte Dimension. Fellini filmte auch zu bereits existierenden Kompositionen, um Rhythmus und Atmosphäre an der Musik auszurichten. Ein charakteristisches Stilmittel ist der bewusste Bruch mit der Hollywood-Symphonik: statt die Handlung bloß zu verdoppeln, setzt er die Musik als eigenständige Erzählebene ein.

Seit Tim Plegges wunderbarer Choreographie Momo (2012) hat Sebastian Hannak bereits viele variable Bühnenbilder in Karlsruhe erstellt, die stilistisch perfekt den Bogen zwischen Geschichte und Erzählung schlagen. Auch Fellini ist wieder bemerkenswert einfallsreich in Szene gesetzt. Bravo!

Fazit: Durch manche starke Momente und hochmotivierte Tänzer wurde die Premiere zu einem lang beklatschten Erfolg.

PS: Liebes Karlsruher Opernteam, bringt doch mal Nino Rotas schöne Oper Il cappello di paglia di Firenze!

Besetzung und Team:
Federico Fellini: Christopher Evans
Giulietta Masina: Lucia Solari
Marcelo Mastroianni: Pablo Polo
Anita Ekberg: Veronika Jungblut
Maurice, ein Magier: Vitor Oliveira
Zirkusgruppe, Paparazzi, Filmcrew: Badisches Staatsballett

Choreografie & Inszenierung Kristina Paulin
Musik: Nino Rota, Davidson Jaconello
Bühne: Sebastian Hannak
Kostüme: Bregje van Balen
Licht: Carlo Cerri

6 Kommentare:

  1. Hallo Honigsammler,
    danke, dass sie an Nino Rotas Oper „Il cappello di paglia di Firenze” erinnern. Sie war übrigens schon einmal in Karlsruhe zu sehen:

    „Der Florentiner Strohhut” (Premiere am 27. Februar 1957)
    Mitwirkende:
    Musikalische Ltg.: Walter H. Goldschmidt
    Fadinard – Eric Marion
    Elena – Eva Bober
    Nonancourt – Edmund Eichinger
    Vezinet – Robert Kiefer
    Beaupertuis – Eugen Ramponi
    Anaide – Hannelore Wolf-Ramponi
    Emilio – Robert Trehy
    Baronin von Champigny – Anke Naumann
    Achille de Rosalba – Anton de Ridder
    u.a.

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    1. Vielen lieben Dank Herr Kraft für die Information! Anton de Ridder habe ich in den 1980er immerhin noch in Karlsruhe live erlebt.
      Rotas Oper wurde im April 1955 uraufgeführt, 22 Monate später war sie schon in Karlsruhe zu hören. Umso mehr ich mich mit der Aufführungsgeschichte der Karlsruher Oper beschäftige, desto stärker fällt mir auf, daß es erst in den letzten Jahren den Wandel gab von der Oper als auch präsentische Kunstform zur vor allem historischen Kunstform. Zeitgenössische Opern finden kaum noch zeitnah oder überhaupt den Weg auf den Spielplan, denn ansonsten hätte es gerade aus den englischsprachigen Ländern mehr Neuproduktionen geben müssen, bspw. Philip Glass: Echnaton (1984), John Adams: Nixon in China (UA 1987), Jake Heggie: Dead Man Walking (UA 2000), Thomas Adès: The Tempest (UA 2004), George Benjamin: Written on skin (UA 2012) oder Charles Wuorinen: Brokeback Mountain (UA 2014). Vielgespielt - nur nicht in Karlsruhe. Auch den finnisch-baltischen Bereichen hätte man integrieren können, bspw. mit einer Oper von Kaija Saariaho. Immerhin hat der Karlsruher Operndirektor anscheinend einige Ambitionen, Jonathan Dove und Missy Mazzoli sind zumindest Nebenableger dieser Reihe.

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  2. Kein Haus kann das gesamte Repertoire abdecken, und diesen spannenden Nischenbereich erst recht nicht. Ich finde, dass die
    aktuelle Intendanz da schon lobenswert wagemutig agiert.
    Und wer "Written on skin" und "Dead man walking" noch diese
    Spielzeit sehen will, muss lediglich nach Frankfurt bzw. Kaiserslautern
    fahren. Und letzte Spielzeit gab es "Brokeback Mountain" in
    Trier sowie "Nixon" in Stuttgart. Koblenz zeigt diese Spielzeit
    Adams' neueste Oper ("Anthony and Cleopatra")...

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    1. Vielen Dank Herr Kaspar, es ging mir hier um die Zeit von der Uraufführung bis zur Produktion am Badischen Staatstheater. Rotas obengenannte Oper kam damals sehr schnell nach Karlsruhe. Das vermisse ich ich ein wenig: über die letzten Jahrzehnte hat man in Karlsruhe den Anschluß bei den spannenden zeitgenössischen Oper verpaßt. Die aktuelle Opernintendanz ist da auf dem richtigen Weg, aber auch vor 20 Jahren gab es einige Opern von Michael Nyman im Kleinen Haus, nun gibt es dort Dove und Mazzoli. Die ganz großen Namen fehlen.

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  3. Ah, dann habe ich das missverstanden. (Das Theater Heidelberg hatte einige Jahre eine thematische Reihe mit Zweitaufführungen.) Dann würde ich immer noch einwenden, dass angesichts des Damoklesschwertes der Einsparungen das Badische Staatstheater aktuell immer noch vergleichsweise mutig ist. In Mannheim wurde die "Griechische Passion" aus Kostengründen bereits gestrichen werden - da bin ich über kleinere Namen schon ganz froh.

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    1. Das war auch von meiner Seite nicht als Kritik an der aktuellen Opernintendanz zu verstehen, die ich mit viel Sympathie beobachte, sondern nur als Feststellung, daß in den letzten Jahrzehnten die Übernahme von den Opern fehlt, über die man spricht und die mehrfach inszeniert werden.

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