Korrelation ohne Kausalität ergibt Konturlosigkeit
Nachdem der vorangegangenen Interimsintendanz 2022 Der fliegende Holländer und 2024 Tannhäuser mißlangen, lag die Meßlatte für den neuen Lohengrin nicht allzu hoch. Operndirektor von Bernuth ist es bei seiner ersten Karlsruher Wagner-Produktion dennoch nicht gelungen, sich nach oben zu befreien. Was gestern bei der Premiere gezeigt wurde, ist erneut eine sinnschwach aufgepropfte Regiearbeit, die bestenfalls einen fragwürdigen voyeuristischen Wert hat: man verfolgt das dünn konstruierte Geschehen wie einen Unfall, bei dem man nicht wegblicken kann. Man kann einem Regisseur dabei zusehen, wie er sich verrennt, verirrt und sich zusehends in seinen Irrweg reinsteigert und dabei komplett die Fäden aus der Hand verliert. Dies wirkt sich auch sängerisch und musikalisch nicht vorteilhaft aus.
Worum geht es?
Eine märchenhafte Sage, mythologisch aus Wolfram von Eschenbachs Parzifal-Epos abgeleitet, die in eine konkrete Vergangenheit gestellt ist. Ort und Zeit: Bei Antwerpen, am Ufer der Schelde, zur Zeit des ostfränkischen Königs Heinrich I. (*876 †936), der als Vater von Otto I. die ottonische Dynastie begründete.
Erster Akt: König Heinrich wirbt um Truppen zum Schutz der Ostgrenzen, wo es Angriffe nicht sesshafter Ungarn gab. Doch der Thron von Brabant ist unbesetzt, der Herzog tot, der Thronfolger verschwunden. Der machtgierige Friedrich von Telramund will, unterstützt von seiner heidnisch-düsteren Gattin Ortrud, selber Herzog werden. Er erhebt schwere Anschuldigungen und wirft der Tochter des verstorbenen Herzogs vor, am Verschwinden ihres jüngeren Bruder Gottfried beteiligt zu sein. Elsa von Brabant verteidigt sich nicht etwa mit Argumenten, sondern schwärmt lieber öffentlich von einem mysteriösen Ritter, der ihr im Traum erschienen ist. Es bleibt der Vorwurf des Brudermords, Beweise gibt es keine und da das Mittelalter nicht gerade bekannt für seine subtile Herangehensweise an juristische Fragen ist, wird ein Gottesurteil angesetzt: Wer im Zweikampf siegt, hat recht. Während alle auf jemanden warten, der Elsa verteidigt, kommt tatsächlich ein Ritter, der einen ungewöhnlichen Auftritt hinlegt: ein Schwan zieht sein Boot. Der Ritter (Lohengrin bleibt bis in den dritten Akt namenlos anonym) bietet Elsa seine Hilfe an. Die einzige Bedingung: Elsa soll bloß nie, nie, nie nach seinem Namen, seinem Stand oder seiner Herkunft fragen. Elsa sagt leichtfertig zu, Lohengrin besiegt Telramund ohne ihn zu verletzten.
Zweiter Akt: Telramund und seine Frau Ortrud sind schlecht gelaunt, vor allem, weil Lohengrin gewonnen hat, Elsa jetzt als unschuldig gilt und die beiden heiraten und den Thron besteigen. Ortrud beschließt, Elsa mit Zweifeln zu vergiften. Elsa, die von Natur aus arglos ist, läßt sich natürlich sofort beeinflussen. Währenddessen plant Telramund, Lohengrin als Zauberer zu entlarven.
Dritter Akt: Nach der Hochzeit hat Elsa dann doch ein paar Fragen an ihren Gatten. Im Brautgemach hält sie es nicht mehr aus und stellt die drei verbotenen Fragen – ganz zur Freude von Ortrud und Telramund, die prompt hereinplatzen. Lohengrin erledigt Telramund kurzerhand, aber das hilft auch nicht mehr viel: Das Vertrauensverhältnis ist dahin. Am nächsten Morgen gibt Lohengrin endlich preis, wer er ist: Ein Gralsritter, Sohn von Parzival, der nun wieder gehen muß, denn der Gral ist ebenso unsagbar und unerreichbar wie seine letztendlich unnahbaren Abgesandten. Der Schwan mit dem Nachen nähert sich. Ortrud gibt sich als heidnische Gegenspielerin zu erkennen, die Gottfried in einen Schwan verwandelt hat. Doch Lohengrins religiöse Kraft verweist die böse Zauberin in ihre Schranken: Der Schwan verwandelt sich in Elsas Bruder. Lohengrin verschwindet nun ohne Schwan, von einer Taube gezogen. Elsa bricht entseelt zusammen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist fatal.
Historisches
Die Uraufführung erfolgte am 1850 in Weimar, die Karlsruher Erstaufführung erfolgte am 26.12.1856 als zweite Wagner-Oper des Hoftheaters, nachdem 1855 bereits Tannhäuser gespielt wurde. Eduard Devrient (*1801 †1877) war ab 1852 für fast zwei Jahrzehnte Direktor des Hoftheaters in Karlsruhe und hatte lange gute Beziehungen zu Wagner. Devrient kannte ihn aus Dresden, 1857 besuchte er ihn in Zürich. Der badische Großherzog Friedrich I. war mit der preußischen Prinzessin Luise (der Tochter des späteren deutschen Kaisers Wilhelm I.) verheiratet, die bereits in Berlin zu den Bewunderern von Wagners Kunst gehörte. 1861 kam Wagner bekanntlich selber zum ersten mal nach Karlsruhe, wo ihm der Großherzog so viel Sympathie entgegenbrachte, daß Wagner die badische Residenzstadt als Wohnsitz in Betracht zog. Doch seine Forderungen kollidierten auch mit dem Aufgabengebiet Devrients, 1862 kam es zum Bruch zwischen beiden. Dennoch bestanden weiterhin gute Beziehungen nach Karlsruhe, siebenmal hielt sich Wagner zwischen 1861 und 1872 in Karlsruhe auf, 1863 dirigierte er zwei Konzerte, in denen ausschließlich seine eigenen Kompositionen aufgeführt wurden (und zwar diese: hier und hier bei der BLB). Im Mai 1864 wurde dann Ludwig II. in Bayern Wagners Mäzen.
Wagner schrieb in seinen Erinnerungen zu Karlsruhe:
"Abermals wurde eine Aufführung des »Lohengrin« unter meiner Leitung besprochen, und ich hierfür neuerdings zum Einverständnis mit Eduard Devrient angewiesen. Dieser hatte nun das Unglück, durch eine mir dargebotene Aufführung des »Tannhäuser« im Theater sich mir auf das Abschreckendste zu empfehlen. Ich musste dieser Produktion an seiner Seite beiwohnen, und hatte hierbei mit Erstaunen zu erkennen, daß dieser sonst von mir so sehr empfohlene Dramaturg in den allergemeinsten Schlendrian des Theaterwesens verfallen war. Meiner Verwunderung über die haarsträubendsten Verstöße in der Darstellung erwiderte er mit noch größerer und dabei vornehm ärgerlicher Verwunderung darüber, daß ich über so etwas viel Wesens machen könnte, da ich doch wüßte, daß es beim Theater nicht anders herginge. Dennoch ward für den bevorstehenden Sommer eine auf Mustergültigkeit berechnete Aufführung des »Lohengrin« unter Mitwirkung des Ehepaares Schnorr verabredet."
Wagner wollte Lohengrin in Karlsruhe selber dirigieren, doch dazu kam es nicht.
Devrient selber war 1856 bezüglich der Anforderungen bei Lohengrin skeptisch: "den Ausführenden wird zuviel abgefordert, das Maß der menschlichen Stimmkraft, bisher in der Musik das überall bestimmende, ist bis aufs letzte überboten, die Instrumentierung überlastet sie obendrein, und ohne nur damit Wirkungen hervorzubringen. Überhaupt ist das Wagners... Art: er schießt meist über sein Ziel hinaus."
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| Quelle: BLB (hier) |
Was ist zu sehen?
Der erste Akt spielt in einer Ruine eines Gerichtssaal. Welche Katastrophe sich zugespielt hat, bleibt unklar, man ringt um Ordnung und Legitimität. Ein Attentäter schießt auf den König und verwundet ihn - wie 2024 beim amerikanischen Präsidenten Trump - am Ohr. Was das soll? Nichts! Es spielt im weiteren Verlauf keine Rolle, ebenso wenig wie die irgendwann für ein paar Sekunden im Zuschauerraum Flugblätter verteilende "Opposition". Mal wieder erweist sich: Launen sind keine Ideen! Der Heerrufer steht dem Gericht vor. Für das Gottesgericht sucht man die passende juristische Vorlage und findet sie in einem verstaubtem Wälzer. Es gibt tatsächlich eine gut choreographierte Schwertkampfszene! Der zweite Akt zeigt dann keine Ruinen, sondern propere Fassaden. Der dritte Akt wirkt wie eine Totenfeier in einer Diktatur.
Die Titelfigur ist kein Gottgesandter, sondern laut Programmheft ein Gutmensch, der vermeintlich das Richtige tun will, eine zufällig (aus dem Publikum!) bestimmte Person, die die Verantwortung übernimmt und Gehorsam mittels Frageverbot fordert. Spätestens in der Gralserzählung fragt man sich, ob Lohengrin lügt oder unter Halluzinationen leidet, denn eine Mission kann er nicht haben. Er wirkt wie eine leere Projektionsfläche, auf die andere ihre Hoffnungen projizieren. Doch ganz schnell läuft diese Absicht als Hoffnungsgeber aus dem Ruder. Lohengrins Gefolgsleute beginnen Pogrome, überhöhen ihren Anführer, militarisieren sich und wirken, als ob sie gerne in einer Diktatur leben und in den Krieg ziehen wollen. Rund um Lohengrin wird gegen dessen Willen, aber auch ohne Gegenwehr, ein militaristischer Führerkult gebaut, ganz so allmächtig ist der Schützer von Brabant also nicht, er ist ja kein Gesandter, nicht mal ein Geschickter, nur was dann außer einem Scharlatan? Wer die Strippen zieht (denn König und Heerführer sind zu wenig präsent), bleibt ebenso unklar, und an diesen zusammmenhanglosen Korrelationen krankt die ganze Inszenierung. Denn der Führerkult bekommt noch deutliche Anlehnung an den Nationalsozialismus. Der Regisseur will etwas erzwingen, was nicht zur Oper paßt.
Auf die Frage, wer Lohengrin sei, ein göttlicher Gesandter oder eine seiner höheren Bestimmung entledigte Figur, entscheidet sich die Regie für die letzte Option: es ist nichts wirklich Wunderbares an Lohengrin. Das kann man schon machen. Auch Theologen scheinen heute lieber vom Diesseits als vom Jenseits zu reden und wirken dadurch zunehmend wie Ideologen. Kaum etwas erinnert noch an Frömmigkeit, fromm soll man nur noch gegenüber den säkularisierten Forderungen zum alltäglichen Diesseits sein, während der Jenseitsglauben immer weiter abzuschwächen droht. Die Glückseligkeit der transzendierenden Erfüllung geht verloren, an ihre Stelle tritt gemeinschaftliche Wellness-Therapie durch Friede, Freude, Eierkuchen-Forderungen und den ständig erhobenen Zeigefinger, der aber nicht mit jenseitiger Bestrafung droht. Der esoterische Flügel von Bündnis 90/Die Grünen (Älteren noch als evangelische Kirche bekannt) ist ein treffendes Beispiel. In dieses Bild müsste man Lohengrin einfügen, um die Figur als Spießer zu modernisieren. Doch das passt nicht zu Musik, Handlung und Hintergrund.
Die deutsche Romantik stand in enger Verbindung zum Katholizismus. Bereits in der Frühromantik zeigte sich ein Interesse an Mystik und einer Hinwendung zur Religiosität. Dieses Streben nach Ganzheit und Transzendenz führte viele Romantiker dazu, den Katholizismus als Ausdruck des tiefen metaphysischen Bedürfnisses und ästhetischer Sehnsucht nach dem Unendlichen wahrzunehmen. Vor allem ab der Spätromantik, als zahlreiche prominente Vertreter zur katholischen Kirche konvertierten prägten religiöse Themen zunehmend das Denken und Schaffen der Bewegung. Es entstanden idealisierte Vorstellungen des Mittelalters, das als eine Epoche eines harmonischen, religiös geprägten Gemeinschaftslebens beschreiben wurde. Joseph von Eichendorff etwa sah im Katholizismus die eigentliche Kraftquelle einer nationalen Einheit. Das Christentum und insbesondere die katholische Kirche wurden zur Inspirationsquelle und zu einem Stilmerkmal der Spätromantik. Tannhäuser und Lohengrin atmen diese sakral romantisierte Luft. Friedrich Nietzsche schrieb noch 1868 in einem Brief: "Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft." Nietzsches Einstellung änderte sich später, den religiös angelegten Parsifal lehnte er ab. Doch für dieses romantisch-religiös Geheimnisvolle an der Figur Lohengrins scheinen heutige Regisseure keine Entsprechung mehr zu finden.
Wenn man heute die Figur des Lohengrin aus seiner religiösen Herkunft entkleiden will, welche zeitgenössischen Alternativen bieten sich ansonsten an? Die Titelfigur läßt sich im Kontext moderner Superhelden als früher Archetyp einer Figur begreifen, die durch Herkunft und äußere Fügung mit übermenschlichen Fähigkeiten und einem Geheimnis ausgestattet ist. Das Interesse an solchen Figuren, die sich im letzten Jahrhundert durch Comics und Film ausdrückte, entspringt der Mischung aus Geheimnis, scheinbarer Übermenschlichkeit und dem unerreichbaren Abstand zur normalen Gesellschaft. Lohengrin erscheint als einsamer Gralsritter aus höheren Sphären, der mit heiligem Wissen, außergewöhnlichen Kräften und strikter moralischer Verpflichtung ausgestattet ist – analog zu modernen Superhelden, deren Fähigkeiten oft aus Herkunft oder magischer/mystischer Bestimmung erwachsen. Seine Bedingung, Name und Herkunft nicht zu verraten, etabliert das zentrale Element von Geheimnis und doppelter Identität: man erlebt eine Wirkung des Helden, bleibt aber vom wahren Ursprung der Wirkung ausgeschlossen. Charakteristisch ist außerdem, dass die Unantastbarkeit der Figur nicht nur physisch, sondern auch moralisch oder emotional gedacht wird. Lohengrin wird als höheres Wesen mit heiligem Wissen und unbeirrbarer Menschenfreundlichkeit beschrieben – anders als etwa antiheroische Figuren fällt auf ihn keine moralische Schuld zurück. Diese konsequente Askese und Selbstlosigkeit erinnert an das Idealbild vieler klassischer Superhelden, bevor moderne Comics verstärkt innere Konflikte und Ambivalenzen einführten. und damit auch gesellschaftlich einen Trend beschrieben, in dem sich Personen über ihre Traumata und Identität wichtig machen wollen. Diese Konflikte fehlen bei Lohengrin, letztendlich ist die Figur eindimensional, jede Regie, die hier mehr interpretieren will, braucht einen tragfähigen Ansatz - und der fehlt in der neuen Karlsruher Inszenierung.
PS: Auf youtube findet sich hier eine akustische Aufnahme des Lohengrin, die 1985 in Karlsruhe entstand, Dirigent: Christof Prick, König Heinrich: Mark Munkittrick, Lohengrin: Klaus König, Elsa von Brabant: Nadine Secunde, Friedrich von Telramund: Hans Kiemer, Ortrud: Ute Vinzing, Heerrufer: Michael Ebbecke
Besetzung und Team:
Der Heerrufer des Königs: Tomohiro Takada

Sehr geehrter Honigsammler,
AntwortenLöschenvielen Dank für Ihre ausgezeichnete und sehr gekonnte Rezension, der ich mich in Bezug auf die Arbeit und die Konzeption der Regie anschließe. Die musikalischen Leistungen der Badischen Staatskapelle und v.a. Dingen des Ensembles sehe ich nicht ganz so kritisch. Auch die Personenführung der Regie war innerhalb des leider ausgesprochen unsinnigen Konzepts in sich stimmig.
Man hat nach einem weitgehend guten ersten Jahr der neuen Intendanz im Bereich des Musiktheaters jetzt leider den Eindruck, dass sich das unselige Regietheater mit seinem intellektuellen Schlendrian auch in Karlsruhe wieder fortsetzt. Man kann nur hoffen, dass dies ein Ausrutscher war, aber nach den Aussagen der Opern- und Theaterleitung mit großem Lob für die Regiearbeit auf der Premierenfeier muss man jetzt schon daran zweifeln.
Mit herzlichem Dank für Ihre große Mühe!
Vielen lieben Dank für Ihre freundlichen Worte.
LöschenIch kenne Lohengrin seit Jahrzehnten, habe meine Lieblingsstellen und Erwartungen, die ich gestern nicht erfüllt sah. Beispielsweise folgendes Mini-Beispiel: wenn Elsa zu Ortrud singt "Es gibt ein Glück", dann habe ich diese kleine Stelle schon mit Sehnsucht aufgeladen gehört oder mir freudiger Überzeugung, lastend oder vibrierend. Gestern hatte die Szene für mich weder sängerisch noch musikalisch etwas zu bieten, die Szene verpuffte, und das erlebte ich gestern mehrfach. Wie geschrieben: gut, ordentlich, routiniert, das kann man schon attestieren, aber man kann mehr Magie erzeugen.
Die Regie diente meine Erachtens dem Ego des Regisseurs, der etwas durchzog, was ihm wichtig war, mir aber ziemlich abstrus vorkam.
Lieber Honigsammler,
AntwortenLöschenIch kann Ihren Verriss diesmal nicht nachvollziehen. Für mich war diese Produktion eine der überzeugendsten, an denen ich je mitwirken durfte. Aus meiner Sicht ist das Konzept in sich schlüssig und tief emotional. Die Zusammenarbeit mit dem Regieteam war so gut, wie man es sich nur wünschen kann. Wir Mitwirkenden waren hochmotiviert und haben für dieses Stück wirklich alles gegeben, trotz kurzer Probenzeit.
Ich kann Ihre Meinung stehenlassen und hoffe, dass Sie auch meine veröffentlichen. MfG
Vielen Dank für Ihren Kommentar! Daß Sie das Konzept als schlüssig und emotional empfinden, zeigt, wie unterschiedlich Wahrnehmung im Theater sein kann – und das ist eine der schönsten Eigenschaften von Bühnenerlebnissen. Die neue Inszenierung scheint übrigens von der Presse gute Kritiken zu bekommen. In diesem Tagebuch verpflichte ich mich selber meinem späteren Ich gegenüber, meine Perspektive unmittelbar nach der Aufführung ausführlich zu erläutern. Das verbinde ich mich Recherchen und weiteren Infos, die mich nach der Aufführung interessieren. Andere Sichtweisen nehme ich gerne zur Hilfe, um andere Zugänge zu verstehen, das lasse ich auch einfließen, wenn ich eine Produktion mehrfach besuche. Bei diesem Lohengrin beeinträchtigten die konzeptionellen und dramaturgischen Entscheidungen die Wirkung des Stücks auf mich deutlich. Die letzte Lohengrin-Inszenierung, die mir gefallen hat, war die von Hans Neuenfels in Bayreuth vor über 10 Jahren mit Klaus Florian Vogt als ebenfalls sehr lyrischem Lohengrins, Annette Dasch als Elsa und Petra Lang als heimtückische Ortrud. Manuel Schmitts Ansatz ist mir schlicht zu gewollt und ungereimt.
Löschen@DF: Vielen lieben Dank für den youtube-Link, den ich oben auch als PS eingearbeitet habe. Die Inszenierung war vor 40 Jahren mein allererster Lohengrin, an vieles kann ich mich noch erinnern. Nochmals Danke dafür!
AntwortenLöschenLieber Honigsammler, ich war als Zuschauerin nach der Premiere ratlos und habe die Kritiken gelesen. Worum geht es denn überhaupt in dieser Produktion? Ich verstehe nicht, was die Regie bezweckt. Um die Inszenierung der Opernhandlung geht es nicht, so viel habe ich verstanden, aber worum dann? Um die Rezeption Lohengrins im Nationalsozialismus? Um Führerverehrung? Um die Bereitwilligkeit, einem Führer zu folgen? Und wer ist Lohengrin? Ein Hitler, der nicht verehrt werden will?
AntwortenLöschenVielen Dank für Ihren Kommentar. Ich kann Ihre Frage leider selber nicht beantworten, denn meines Erachtens gibt es darauf keine Antwort, außer: die Regie weiß selber nicht, was sie will. Man zündet Nebelkerzen, macht Anspielungen, streut Hinweise, und jeder kann sich jetzt ableiten, was er will. Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk notierte einmal:
AntwortenLöschen"Mir kommen die Welt von heute und ihre Debatten mit jedem Tag mehr vor wie ein aus dem Ruder gelaufenes Luhmann-Seminar. Die basale Intuition der Luhmannschen Denkweise bewahrheitet sich immer stärker: Wir haben es überall mit Beobachtungen zweiter Ordnung zu tun, Beobachtungen von Beobachtungen von Beobachtungen. Die Zeit der schlichten Meinungsäußerungen ist vorüber. Alle werden beim Beobachten beobachtet und überwacht, die Sekundärbeschreibungen übernehmen das Kommando."
Die Handlung der Oper wird durch eine solche Sekundärbeschreibung ersetzt, man beobachtet einen Beobachter bei der Mitteilung seiner Beobachtungen. Da geht es um Richard, um Winifred, um Adolf, aber nicht um Lohengrin, Elsa und die Telramunds, die durch eine Schablone durchgezwängt werden. Für mich haben Ungereimtheiten eine humoristische Qualität, bei all dem inszenatorischen Unfug konnte ich zumindest lachen. Da ich aber keiner Komödie beiwohnte, war für mich damit das Thema verfehlt.
Welche Aufnahme von Lohengrin können Sie empfehlen? Danke & schönes Wochenende
AntwortenLöschenDie als Referenzaufnahme geltende CD ist die Einspielung unter Rudolf Kempe bei EMI aus dem Jahr 1962 mit Jess Thomas (Lohengrin), Elisabeth Grümmer (Elsa), Dietrich Fischer-Dieskau (Telramund) und Christa Ludwig (Ortrud). Das ist auch der einzige Lohengrin, den ich mir noch anhöre. Ansonsten Keilberth live aus Bayreuth 1953 bei Decca, sehr intensiv, aber auch alter Live-Ton
LöschenUnd hier noch die Meinung von Herrn Kaspar zur Vorstellung am 07.12.2025. Da diese 5099 Zeichen umfasst, für einen Kommentar aber nur 4096 Zeichen zulässig sind, habe ich den Kommentar auf zwei Kommentare aufgeteilt
AntwortenLöschen-------------TEIL 1-------------
Mein lieber Schwan – mit diesem “Lohengrin“ hat sich das Badische Staatstheater eindrucksvoll auf die deutsche Wagner-Bühne zurückgemeldet. Zugegeben, nach der verunglückten Vorgängerproduktion war das nicht schwer, aber Regisseur Manuel Schmitt gelingt ein über weite strecken überzeugender, bezwingender Zugriff auf das vielleicht politischste Werk des Bayreuther Meisters. Im Gegensatz jedoch zu Lesarten, die Lohengrin als Marionette eines anderen Protagonisten zeigen oder ihn gar selbst als Demagogen zu entlarven vorgeben, betont Schmitt die Selbstradikalisierungskräfte der Massen.
So wird noch im ersten Akt ein anarchistisches Zitat Wagners eingeblendet, während im zweiten und dritten Akt Winifred Wagner-Zitate aus dem Jahr 1923 die Entwicklung bereits vorab deutlich machen. Schritt für Schritt kippt dieses Brabant auch szenisch von einem zerstritten-pluralistischen Rechtsstaat (der erste Akt spielt dann auch im Gericht) in einen totalitären Führerstaat – und das ganz ohne Zutun von Außen. Natürlich werden bekanntere Anleihen an den Übergang von Weimar (Elsa im Hosenanzug und Zigarette) zum Dritten Reich (Uniformen, Fackelaufmarsch) genommen, aber immer wieder tauchen da Momente auf, die man so noch nicht gesehen hat. Das fängt schon damit an, dass Lohengrin tatsächlich als Zuschauer im Auditorium sitzt und von dort seinen bekannten Acapella-Einsatz tätigt. Nach einem bestens geprobten Schwertkampf sitzen im zweiten Akt Ortrud und Telramund – ihm wurden die Haare ebenso geschoren wie einzelnen Choristen, die beim Münsteraufzug Schilder mit der Aufschrift „Ich habe nicht geglaubt“ um den Hals tragen und den Bühnenboden putzen müssen – auf dem gesamten Hausstand, der dann auch prompt von den Massen gestohlen (arisiert) werden. Elsa plagen bereits hier große Zweifel – spätestens dann, als sich zu den Orgelklängen die Treppe des Münsters in eine unheimlich ausgeleuchtete Rednertribüne verwandelt, wird das Adorno-Zitat von der Unmöglichkeit des richtigen im falschen Leben bitterböse Realität. Im dritten Akt steht folglich auch kein Hochzeit-, sondern ein Kinderbett bereit, der spielfreudige und stimmlich gute Chor besteht aus Ärzten und Hebammen. Ganz am Schluss zerbricht dann der immer wieder präsente Schwan/Gottfried das von Lohengrin zurückgelassene Schwert. Ein starkes Bild.
Nein, perfekt ist diese Lesart nicht, dazu verheddert sich Schmitt zu oft in störenden Nebensächlichkeiten. Der Trump-ähnliche Attentatsversuch auf König Heinrich bei dessen Ansprache hätte es genauso wenig bedurft wie das omnipräsente Bühnenbildelement, die Grabplatte Richard Wagners in Wahnfried. Die klappernde Schreibmaschine bei Telramunds „Dank dir“-Arie stört, die vier als Mini-Walküren verkleideten Edelknaben irritierten und der kurzfristig maskierte Chor ganz am Schluss blieb mir irgendwie unklar. Aber egal – in einer „Werkstatt“ à la Bayreuth könnte der mit 37 Lenzen ungewohnt junge Regisseur seine Interpretation schärfen und fokussieren. So bleibt dieser „Lohengrin“ allemal eine kluge, nachdenkliche, sicherlich auch diskutierbare Produktion – ganz im Gegensatz zum gewiss nicht verkehrten, kapellmeisterlich korrekten, aber doch unscheinbaren Dirigat des GMDs (Georg Fritzsch).
-------------TEIL 2-------------
AntwortenLöschenTomohira Takida war ein ordentlicher Heerrufer, Konstantin Gorny ein relativ rau orgelnder König Heinrich mit einigen Textunsicherheiten. Übel im Laufe des Abends abbauend war Kihun Yoon als Telramund – der Koreaner startete imposant, verlegte sich aber immer mehr auf eine Mischung aus Bellen und Sprechgesang. Am neugierigsten war ich auf die Besetzung der Ortrud, die mit der Ex-Primadonna und Tosca vom Dienst besetzt wurde. Warum singt die Frau eigentlich erst jetzt ihren ersten richtigen Wagner, bitte schön? Dass die im italienischen Fach heimische Barbara Dobrzanska die Radbod-Tochter stimmlich deutlich anders und höhensicherer angehen würde als die zahlreichen Verlegenheits-Mezzosopranistinnen war erwartbar. Aber mit welchem bedingungslosen Furor sie das „Fahr heim“ am Schluss herausschleuderte, das machte nur noch sprachlos vor Begeisterung. In der Titelpartie hörte man den einzigen Gast des Abends, Mirko Roschkowski. Mit vorbildlicher Diktion, bewundernswerter Atemtechnik und butterweichen Piano-Stellen („du süße, reine Braut“ – zum Niederknien) macht der sympathische Zwischenfachtenor fast vergessen, dass ihm der Tamino eigentlich immer noch näher liegt als der Tristan. Im Forte klingt die Stimme etwas „quakend“, und gerade in der Brautgemachszene hätte ich mir doch etwas mehr Resonanz im Körper gewünscht, aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Und die Elsa? Ich gestehe, mich heute ein bisschen in Pauliina Linnosaari verliebt zu haben. Mit welch kristallinklarem Sopran und gleichzeitig warmen Sopran sie die zunehmend zweifelnde, nie verhuschte Unschuldige singschauspielert, das hat mich wirklich – und ich hassen diesen Begriff eigentlich – berührt.
Kurzum: ein absolut lohnenswerter, runder Abend mit einer etwas noch zu kantigen Regie, die aber dennoch große Wirkung erzielt, indem sie klar Position bezieht. Also ein Sechser im Lotto ohne Zusatzzahl.
Vielen lieben Dank Herr Kaspar für ihre Eindrücke zur gestrigen Vorstellung. Was Sie an diesem Lohengrin begeistert hat, kann ich auch nach Lesen von Ihrer und anderer Analysen nicht nachvollziehen, so etwas wie "die Selbstradikalisierungskräfte der Massen" gibt es bspw. meines Erachtens nicht. Radikalisierung besteht aus einem Zusammenspiel von strukturellen Bedingungen, individuellen Erfahrungen, medialen Dynamiken und bewusster Einflussnahme durch Akteure. Kein Symptom ohne Ursache: Polarisierung durch gefühlte Ungerechtigkeit, Mangellagen, Benachteiligung, Ausgrenzung und Kulturkonflikte und Dynamiken innerhalb der „Masse“ verstärken Radikalisierungen, indem sie Wahrnehmungen von Bedrohung und Feindseligkeit gegenseitig hochschaukeln. Doch das Wesentliche an einer Radikalisierung unterschlägt diese Inszenierung, sie behauptet sie nur. Daraus kann ich nichts ablesen.
LöschenSchilder mit der Aufschrift „Ich habe nicht geglaubt“ haben mich an die Covid-Epidemie erinnert, gedemütigt werden Impf-Verweigerer, die Inszenierung schien mir kurzzeitig wie ein Kommentar vor der führerlosen Verwandlung der Bundesrepublik in einen autoritären Staat durch die Altparteien. Lohengrin als Oper über einen "totalitären Führerstaat" kann ich ebenfalls nicht heraushören oder in dieser Oper erkennen.
Aber egal, nichts an dieser Produktion hat mich beeindruckt oder überzeugt oder produktive Assoziationen ermöglicht. Falls ich mir noch ein zweites Mal eine Karte kaufe, dann wegen Barbara Dobrzanska!
Natürlich findet Selbstradikalisierung nicht im luftleeren Raum statt, das würde ich (und wohl auch die Regie nicht) gar nicht behaupten. Insofern fühle ich mich da nicht wirklich angesprochen. In der Szene vorm Münster als der Heerrufer zum Krieg aufruft, sieht Lohengrin ja die Akten ein und schüttelt selber nur den Kopf. Die Massen, die sich noch im ersten Akt am liebsten selber den Kopf eingeschlagen hätten, richten ihre Aggression nun nach außen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Erlöser nicht in der Lage ist, das Vakuum mit Inhalten zu füllen, es reicht eben nicht, nur mit gutem, gar göttlichem Willen ausgestattet zu sein. Nun kann ich Ihnen Ihre Assoziationen nicht nehmen, aber ich konnte bei der Strafkolonie beileibe keinen Bezug zur Corona-Epidemie feststellen. Die historischen Bezüge an die braun-dreißiger Jahre liegen da doch deutlich näher.
AntwortenLöschenIch stimme Ihnen jedoch zu, dass die Regie das alles deutlicher, schärfer hätte herausarbeiten können, indem sie auf einige Mätzchen einfach verzichtet hätte. Aber nun gut, was ist schon perfekt? Und was Dobrzanska betrifft: tun Sie das unbedingt!
Dennoch: vielen Dank für diesen und all die anderen Berichte, die sich immer wohlwollend vom medialen Einheitsbrei abheben!
Vielen Dank für die freundlichen Worte, die ich nur zurückgeben kann: ich vermisse Ihren Opernschnipsel-Blog!
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